Warum wir eine Reform der Jugendhilfe in Deutschland brauchen

Es leben derzeit 37 000 Straßenkinder in Deutschland. Die Jugendhilfeeinrichtung Momo e.V. hat uns erklärt, was obdachlose Jugendliche wirklich brauchen.

Von Tamina Grasme, 21 Jahre

Sophia hat acht Jahre auf der Straße gelebt. Grund dafür waren familäre Probleme. Sie ist der Obdachlosigkeit entkommen und hat gerade ihren Bundesfreiwilligendienst bei der nicht-staatlichen Selbsthilfeorganisation Momo abgeschlossen. Jetzt hilft sie als Mitglied anderen entkoppelten Jugendlichen und verschafft ihnen Gehör in der Politik. Und die müsse dringend umdenken, sagt Sophia, etwa was die Arbeitsweise der Jugendämter anbelange.

„Viele Jugendliche wünschen sich, zur Ruhe kommen zu können.“

Nach einer aktuellen Studie leben etwa 37 000 Kinder und Jugendliche in Deutschland auf der Straße. Momo kämpft in Berlin, Hamburg und Jamlitz für ihre Rechte und möchte die momentan gängige Jugendhilfe verändern. So seien die derzeitigen Betreuungsprogramme zu hart für die bereits unter Druck stehenden Jugendlichen. Laut André Neupert, Politologe und Berater bei Momo, liege das vor allem an dem auf Leistung basierenden System. Sophie, eine der Teilnehmerinnen der Konferenz und selbst Momo-Mitglied, stimmte dem zu. „Viele Jugendliche wünschen sich, zur Ruhe kommen zu können. Der Druck ihrer Betreuer ist ihnen zu viel und sie flüchten sich zurück auf die Straße.“

Von häuslicher Gewalt betroffene Kinder erhielten bei Jugendamt kaum Gehör, da Erwachsene als glaubhafter gelten

„Anstatt sofortige Hilfsmaßnahmen einzuleiten, werden aktuell die Eltern informiert, sobald ein Kind häusliche Gewalt meldet. Leugnen die Eltern die Vorwürfe, müssen die Jugendlichen zurück nach Hause und laufen dann nicht selten weg“, erzählt uns Sophia. Längst würden sich obdachlose Jugendliche untereinander davon abraten, beim Jugendamt um Hilfe zu bitten, da ihnen doch nicht geglaubt werden würde. Dabei gibt es bereits Ansätze, die nicht nur günstiger als das deutsche System sind – sie würden auch den Kindern zielgerichteter helfen.

Eine Möglichkeit wäre das sogenannte „Housing First“-Modell. Als Housing First wird ein relativ neuer Ansatz der Sozialpolitik bezeichnet, der wohnungs- oder obdachlosen Kindern und Jugendlichen sofort und bedingungslos Wohnraum zur Verfügung stellt. Ein Professor der Sozialwissenschaften aus Harvard hat dieses Konzept entwickelt. Bisher wurde es unter anderem in Dänemark und Finnland angewendet. Dort stellte sich schnell heraus wie viel kostengünstiger diese Programme sind. Darüber hinaus ist eine deutlich geringere Rückfallquote der Jugendlichen in die Obdachlosigkeit von nur zehn Prozent zu verbuchen. In Deutschland liegt diese Quote derzeit bei etwa 50 Prozent.

Leistungsdruck und freiheitsentziehende Maßnahmen als Standard in den staatlichen Jugendhilfeprogrammen

Anstatt dieser Methode wird in Deutschland ein dreistufiges Modell angewendet, das auf Leistung und Veränderungsbereitschaft abzielt. Zuerst muss ein obdachloses Kind eine Notunterkunft aufsuchen. Hier gibt es eine strenge Hierarchie und das Alter entscheidet, wer hier um welche Uhrzeit ein Bett erhält. Meistens muss man diese Unterkunft auch nach einer Nacht wieder verlassen. Erreicht man jedoch die zweite Stufe, wird man in ein stationäres Betreuungswohnheim geschickt. Verhält man sich dort den Regeln der Betreuer konform und zeigt genügend Leistung, kann man am Ende in das betreute Einzelwohnen verwiesen werden. „Das ist aber nur selten der Fall“, verrät uns Sophia.

Denn zu erst einmal liege zwischen den Stufen eins und drei eine Zeitspanne von etwa drei Monaten bis zu anderthalb Jahren. Außerdem sei die Aufnahme in den Programmen an eine Vielzahl von Bedingungen geknüpft. So müssen die Jugendlichen die Auflagen des Jugendamtes erfüllen, die oftmals zu undurchsichtig und komplex seien. Sie müssten zwangsläufig eine Therapie machen und seien schließlich der Willkür der Sozialarbeiter ausgesetzt.

Weitere Probleme sind das Fehlen von unabhängigen und unangekündigten Kontrollen der Einrichtungen und des Jugendamtes. Obwohl die Jugendlichen ständiger Kontrolle ausgesetzt sind, gibt es für die Ämter und Programme kaum Überprüfung. „Außerdem gibt es zu wenig Beschwerdestellen für die Jugendlichen“, berichtet uns André Neupert. Außer der internen Beschwerde bleibt zumeist kaum eine Möglichkeit und diese endet häufig für die Jugendlichen in Sanktionen durch die Betreuer.

Funktionierende Alternativen zur staatlichen Jugendhilfe existieren bereits, werden aber nicht ausreichend gefördert

Momo möchte daher Projekte stärken, die auf Basis der Selbsthilfe statt des Leistungsdrucks stehen. So leitet der Karuna e. V., an den Momo angegliedert ist, derzeitig ein in Deutschland einzigartiges Projekt: Bei „Landeinwärts“ leben sozial entkoppelte Jugendliche in einer Wohngemeinschaft, organisieren ihr Leben wie auch den Putzplan selbst. Dieses Programm ist bisher sehr erfolgreich.

So hat einer der Teilnehmer anschließend studiert und arbeitet jetzt ebenfalls als Sozialarbeiter für Jugendliche auf der Straße. Doch leider seien die Kapazitäten viel zu begrenzt. André Neupert würde sich wünschen, dass es auch in Berlin kommunalen Wohnraum gäbe, den Jugendhilfeträger für andere sogenannte Housing First-Programme nutzen könnten.

Doch auch kleine Änderungen in der Berliner Stadtpolitik würde Sophia begrüßen. So findet sie die Umbauten an den S- und U-Bahnhöfen nicht in Ordnung. „Dadurch, dass etwa an den U- und S-Bahnhöfen die Bänke mit Lehnen versehen wurden, können Obdachlose dort nicht mehr schlafen.“ Dass das sogenannte „Containern“ in Deutschland nicht straffrei ist, erschwere die Nahrungsbeschaffung. Laut der Umweltorganisation WWF werden in Deutschland jährlich 18 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen. Dennoch ist es Hausfriedensbruch und Diebstahl, wenn man noch Genießbares aus den Abfallcontainern der Supermärkte entnimmt. Daher fordert Momo ein Gesetz, das die Verschwendung von Lebensmitteln verbietet, indem etwa kurz vor dem Ablaufdatum stehende Produkte gespendet werden müssten

Du möchtest mehr über die politische Arbeit von Momo wissen oder interessierst dich für einen Bundesfreiwilligendienst dort? Hier kannst du mit Momo Berlin Kontakt aufnehmen.

Foto: Lutz Müller-Bohlen

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Kategorien Gesellschaft Politik Zwischendurch

Wenn ich, 22, eine Top 5-Liste mit Sätzen, die ich in den vergangenen drei Jahren am häufigsten gehört habe, aufstellen würde, wäre „Was wird man denn so nach einem Geschichtsstudium?“ ganz weit oben vertreten. Zum Glück habe ich mittlerweile eine Antwort darauf gefunden: Journalistin. Darauf gekommen bin ich durch das Lesen von Harald Martensteins Artikeln, der selber Geschichte studiert hat. Von ihm habe ich auch meinen neuen Zukunftsplan: einfach immer schreiben. Genau das mache ich jetzt hier bei Spreewild, nachdem mir mein Praktikum in der Jugendredaktion so gut gefallen hat.