Schreibblock oder Touchscreen

Statt ins Buch könnten Schüler bim Hausaufabenmachen bald einen Blick auf den Bildschirm des Tablet-Computers werfen.
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Berlins Schulen sollen nach dem Willen des Senats papierfrei werden. Ist das zeitgemäß oder zu viel der Modernisierung? Zwei Jugendreporter stellen sich die Zukunft vor.

Utopie: Druckfehler in Matheaufgaben, unaktuelle Geschichtsbücher oder chaotische Tafelbilder – solche Probleme kennen wir nur noch aus den Erzählungen unserer Eltern und größeren Geschwister. Open Educational Resources, frei verfügbare Lehrmittel, haben unsere Lernmaterialien weitgehend fehler- und die Schulen papierfrei gemacht. Sie haben Bücher und Schulhefte abgelöst. Über Internetportale tauschen Lehrer ihr Unterrichtsmaterial unter­einander aus und helfen einander, es zu optimieren. 
Auch die Schulbuchverlage haben mitgezogen und stellen ihre Bücher mittlerweile digital zur Verfügung. Das hat viele Vorteile: zum Beispiel im Politikunterricht. Wir öffnen auf dem Bildschirm unsere digitalen Bücher und es ist ein wenig wie bei Harry Potter: Auf den Seiten, auf denen es um die Bundesregierung geht, lächelt einem dort, wo gestern noch ein netter, älterer Herr zu sehen war, plötzlich eine Frau entgegen. Gestern wurde die neue Bildungs­ministerin vereidigt. Abgesehen davon, dass die Schulbücher mittlerweile fast tagesaktuelle Themen behandeln, können auch Formulierungen, die irgendwann veraltet sind, ausgetauscht werden. Wo man früher hunderte Seiten neu auflegen musste, wenn man etwa vergessen hatte, nicht nur Schüler, sondern auch die Schülerinnen anzusprechen, bessern die Verlage heute einfach nach. Hinzu kommt, dass wir ohne gedruckte Bücher weniger Haltungsschäden haben als früher. Denn statt schwerer Schulmappen voller dicker Wälzer kommen alle nur noch mit Tablet-Computern in die Klasse. Notizen können damit per Fingertipp vom Smartboard direkt in das digitale Schulheft wandern. Statt mit stumpfsinnigem Abschreiben sind die 45 wertvollen Unterrichtsminuten nun mit mehr Inhalten gefüllt. 
Obwohl es zunächst so klingt, als hätte diese Errungenschaft einen hohen Preis gehabt, ist das Gegenteil der Fall. Die Familien werden sogar entlastet: Früher mussten sie pro Kind und Schuljahr Bücher im Wert von bis zu 100 Euro privat beschaffen. Nach der zehnjährigen Schulpflicht waren sie also bis zu 1 000 Euro allein für Bücher los. Da ist der einmalige Kauf eines Tablets schon günstiger. 
Das Geld fließt nun in Ausflüge, Schüleraustausche und andere Projekte. Selbst für das Schulessen konnte von dem Ersparten noch etwas verwendet werden, sodass es jetzt gesünder ist und besser schmeckt, als wir es aus früheren Erzählungen kennen. (Ben Marc, 18 Jahre)

Ob es Bilder wie dieses von Jugendlichen, die Bücher und Schreibblöcke tragen, dann noch geben wird, ist allerdings fraglich.
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Dystopie: Es ist drückend warm in den Schulräumen. Draußen sind 30 Grad. Meine Deutschlehrerin hält sich einen Handventilator vor das Gesicht und seufzt erleichtert. „Heute behandeln wir ‚Faust‘ und ich habe einen Ausschnitt der alten Verfilmung mit Gustaf Gründgens mitgebracht, den wir uns ansehen.“ Per Smartboard bedient sie sämtliche Tabletcomputer in unserem Raum. Innerhalb weniger Sekunden startet an jedem Arbeitsplatz der Film. Die Klasse stöhnt, niemand hat Lust auf noch mehr bewegte Bilder – gerade mussten wir uns in der Mathestunde 45 Minuten lang auf unseren Tablets ansehen, wie verschiedene geometrische Körper im dreidimensionalen Koordinatensystem um sich selbst rotieren. „Ja ich weiß, das ist anstrengend“, sagt unsere Lehrerin, „aber morgen werden wir per Live-Zuschaltung bei einer Theateraufführung dabei sein.“ 
Ich merke, wie mein Banknachbar auf seinem Stuhl herumrutscht. Er ist nicht der einzige, der mit Rückenproblemen zu kämpfen hat, seit wir den Blick nicht mehr zur Tafel heben, sondern auf die Tablets senken. Die Schule überlegt, einen eigenen Physiotherapeuten einzustellen. 
Auf dem Display tritt Mephisto auf. Meine Augen schmerzen – ich setze meine Brille auf. Meine Mutter wurde in meinem Alter noch als Vierauge gehänselt. Das könnte heute nicht mehr passieren. Dank der Digitalisierung der Schulen gucken wir ständig nur auf Bildschirme – die Sehschwäche hat sich zur Kinder- und Jugendkrankheit entwickelt. 
Vorne am Pult gibt der Handventilator unserer Lehrerin kläglich seinen Geist auf. Die zusätzliche Hitze, produziert durch die vielen Computer im Raum, zwingt sie aufzustehen und die Fenster zu öffnen. Der Effekt ist gleich null. Unserem Schulleiter kann man keinen Vorwurf machen. Er musste den gesamten Schuletat für die Tablets und Smartboards verwenden. Das ist nun schon der dritte heiße Sommer ohne Klimaanlage. Ich schiele auf die Uhr und atme erleichtert auf. Nur noch eine Viertelstunde, dann ist der Unterricht endlich zu Ende und die Literatur-AG beginnt. Die findet glücklicherweise im Keller statt, wo die wertvollen Bücher kühl lagern. Mit gedruckten Büchern zu arbeiten, ist im wahrsten Sinne des Wortes cool. Worauf ich mich nicht freue, sind die Handschriftübungen. Stifte sind zum Malen da, nicht zum Schreiben. Wer bloß auf so eine Idee gekommen ist!? Dafür gibt es doch schließlich Tastaturen. (Aniko Schusterius, 18 Jahre)

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90er-Kid, Bücherwurm, Weltenbummler. Ich liebe Musik und das geschriebene Wort. Letzteres kann man von mir seit 2012 hier lesen. Meine große Leidenschaft gilt dem Theater, das mich mehr als alles andere fasziniert. Wenn ich durch die Straßen Berlins laufe, kommt mir das Leben vor wie eine Aneinanderreihung vieler kleiner Inszenierungen, deren Geschichten alle festgehalten werden wollen. So inspiriert mich unsere Hauptstadt stetig zu neuen Themen für unsere Seite.