Sei voll, sei eng, sei Berlin
von Lorenz Wünsch, 20 Jahre
Es wird eng im Klassenzimmer. Seit Beginn des Schuljahres macht sich in Berlin ein Lehrermangel bemerkbar, der Direktoren dazu zwingt, vorübergehend Kurse zu streichen oder mit anderen zusammenzulegen. So kamen beispielsweise an der Goethe-Oberschule in Lichterfelde ungefähr 50 Oberstufenschüler gleichzeitig in den Genuss einer Deutschstunde.
Die Berliner Bildungspolitik nimmt damit konsequent ihren Auftrag wahr, die Schüler adäquat auf ihr späteres Leben vorzubereiten. Schließlich wird es auch im Alltag voller: Im Uni-Hörsaal stapeln sich die Studenten, auf dem Arbeitsamt sind neun Uhr morgens keine Wartenummern mehr verfügbar, und über die Zustände in der Berliner S-Bahn ist ausführlich berichtet worden. Endlich dürfen auch die Oberstufenschüler das konzentrierte Dasein bei stickiger Luft und bedrückender Enge trainieren.
Exklusive Sitzplätze
Mit der Verdoppelung der Kursstärke wird der Unterricht zudem um doppelt so viele Ideen reicher. Für die Lehrkraft erhöht sich damit die Chance sprunghaft um 100 Prozent, wenigstens eine Antwort auf die Frage zu bekommen, wie die binomischen Formeln lauten. Nachdem der Unterricht heutzutage vielerorts als langweilig und altbacken gilt, könnte durch eine Limitierung von Sitzplätzen neuer Ehrgeiz bei den Schülern geweckt werden. Ähnlich dem Ticketsystem bei der Berlinale könnten die Schulen jeweils am Vortag in begrenzter Anzahl kostenlose Eintrittskarten für die jeweiligen Kurse vergeben.
Das allmorgendliche Schlangestehen um die begehrten Sitzplätze erinnert an das lustige Kinderspiel „Reise nach Jerusalem“ und schweißt die Schulgemeinschaft zusammen. Selbstverständlich sollten auch kostenpflichtige Dauerkarten angeboten werden, die – wie bisher – zum uneingeschränkten Besuch des Unterrichts berechtigen. Diese müssten sich im Preis ungefähr nach den Kosten für amerikanische Privat-Unis richten. Auf diese Weise würde sich schnödes Schulbank-Drücken endlich exklusiv anfühlen.
Als besonderes Event könnte man Massen-Deutschlehrer Bastian Sick bitten, seinen Rekord der „größten Deutschstunde“, den er 2006 mit 15 000 Zuhörern in der Köln-Arena aufgestellt hat, mit bis zu 70 000 Berliner Schülern im Olympiastadion zu toppen – am besten jeden ersten Sonnabend im Monat als Blockseminar. So könnte man mit einem Schlag den ausgefallenen Deutschunterricht für alle Berliner Oberstufenschüler nachholen und sie unschlagbar gerecht auf das Zentralabi vorbereiten.
Der Berliner Senat darf seinen aktuellen Kurs folglich ruhig offensiv bewerben. Zum Beispiel, indem er seine Imagekampagne auch in die Schulhäuser trägt. Über jedem Klassenraum steht dann geschrieben: Sei voll, sei eng, sei Berlin!