In den vergangenen Wochen war oft davon die Rede, dass sich jeder Deutsche daran erinnern würde, wo er war, als die Mauer fiel und wie er den 9. November 1989 erlebt hat. Im Vorfeld des 25. Jahrestages des Mauerfalls gestern fragten Fernsehsender Passanten danach, und Zeitungen interviewten Prominente dazu. In der Jugendredaktion der Berliner Zeitung kann sich niemand daran erinnern, was damals geschah. Denn keiner unserer Jugendreporter war damals schon geboren. Dankbar für die Wiedervereinigung sind wir trotzdem. Denn auch wir würden ohne sie anders leben. Zum Mauerfalljubiläum haben sich unsere Autoren Gedanken darüber gemacht, was für sie anders wäre, wenn die Mauer noch stünde:
Von älteren Erwachsenen höre ich häufig die Worte: „Ihr seid ja schon alle West-Kinder.“ Was auch immer das heißen soll, gäbe es die Mauer noch, würde das wohl keiner zu mir sagen können. Außerdem hätte ich eine sehr gute Freundin nicht kennengelernt. Sie kommt nämlich aus Heilbronn im tiefsten Baden-Württemberg. Überhaupt würde sich mein Freundeskreis nicht über ganz Deutschland ausbreiten, sondern eher auf meine Stadt und Umgebung. Das fände ich allerdings ziemlich schade, denn dadurch hätte ich viele tolle Erfahrungen nicht gemacht und Erlebnisse niemals gehabt.
Ich war vor allem als Kind ganz großer Potsdam-Fan. Ich konnte mich stundenlang im Park Sanssouci aufhalten und im Holländischen Viertel heiße Schokolade trinken. Ich erinnere mich noch daran, wie mein Vater mir erzählte, er habe – aus dem Westen kommend – nie gedacht, einmal zu einem normalen Sonntagsausflug nach Potsdam zu fahren. Sanssouci war ihm nur aus Geschichtsbüchern und als Motiv eines Puzzles bekannt. Als Kind habe er sich immer gefragt, ob er wohl das Schloss jemals in Wirklichkeit sehen würde. Für mich war allein diese Überlegung lange unvorstellbar, wo ich doch in Spandau einfach nur ins Auto stieg und innerhalb von 20 Minuten in Potsdam war.
Wäre die Mauer noch da, hätte ich nach dem Abitur nie nach Südamerika gehen können, hätte einige meiner besten Freunde nicht kennengelernt und wäre sicherlich nicht in der Wohnungslosenhilfe tätig, weil es wohnungslose Menschen in der DDR offiziell nicht gab.
Stünde die Mauer heute noch, hätte ich bis jetzt wahrscheinlich keinen exotischeren Platz als die Ostsee besucht. Wahrscheinlich wäre ich nicht einmal im Besitz eines Reisepasses, und viele schöne Urlaube innerhalb und außerhalb Europas wären mir verwehrt geblieben. Im vergangenen Jahr habe ich beispielsweise mit dem Landesorchester Brandenburg eine aufregende Konzert-Tour durch Namibia gemacht, die der beste Beweis für mich war, dass Reisen nicht
nur Spaß macht, sondern auch den Horizont erweitert.
Ich bin ein richtiger Wossi. Meine Mama kommt aus dem Westen und mein Vater aus dem Osten. Wenn die Mauer nicht gefallen wäre, gäbe es mich jetzt nicht. Einmal traf ich bei einer Veranstaltung den früheren russischen Präsidenten Michail Gorbatschow, bei dem ich mich bedankt habe, dafür, dass er für den Mauerfall gesorgt hat. Er war sehr gerührt und schrieb mir sogleich eine Widmung auf Russisch.