Unsere Autorin ist genervt vom moralischen Zwiespalt, in dem sich viele beim Online-Dating sehen. Tindern macht Spaß, vor allem wenn man gerade nichts Besseres zu tun hat.
Von Selly Häußler
„Ich deinstalliere Tinder immer wieder. Eigentlich finde ich das voll scheiße“, sagt der gutaussehende Mann mit Pferdeschwanz neben mir. Innerlich verdrehe ich die Augen, denn das höre ich nicht das erste Mal. Viele meinen, sie seien sich zu schade fürs Online-Dating und dann reißt sie irgendeine unbefriedigte Sehnsucht zurück in die Tinderhölle. „Ups. Eigentlich hab‘ ich das ja gar nicht nötig.“ Aja.
So sitze ich nun mit meinem 35sten Tinderdate bei einem Bier am Maybachufer-Kanal und versuche ihn dazu zu bringen, mit dem was er tut ins Reine zu kommen. Den Selbstekel abzulegen.
Ich zähle die Dates natürlich nicht. Das war nur eine grobe Schätzung. Es sind nicht 35, weil ich so verzweifelt auf der Suche bin oder war und auf keinem anderen Weg Männer treffe. Es sind auch nicht 35, weil ich dauernd jemand Neuen in meinem Bett brauche. Dazu ist es selten gekommen. Ich leugne ja gar nicht, dass das eine Hoffnung ist. Gelungen ist ein Date aber auch ohne Kuss. Ohne ein zweites Treffen. Meistens macht es mir einfach Spaß hin und her zu wischen und mich dann mit einem Menschen zu verabreden, den ich noch nie gesehen habe. Und das hat Gründe.
Es gibt nichts zu verlieren
Ich bin selten aufgeregt. Was irgendein Typ von mir denkt, den ich nicht kenne, ist mir egal. Wenn es schlecht läuft, kein Problem. Wenn es gut läuft, super. Manchmal treffe ich mich auch mit Männern, von denen ich gar nicht so richtig glaube, dass sie mein Typ sind. Am liebsten sehr spontan. Ich sehe es als gute Unterhaltung. Ich hab‘ auch schon versucht mich mit Frauen zu verabreden, das war aber nicht so leicht. Könnte unter anderem daran liegen, dass ich vorher klargestellt habe, dass ich eigentlich nicht auf Frauen stehe. Tinder ist oberflächlich? Im Gegenteil. So lasse ich mich auf ein längeres Gespräch mit Menschen ein, die ich normalerweise abgewiesen oder gar nicht bemerkt hätte.
Er wird wahrscheinlich nett zu mir sein
Und mir zuhören. Meine größte soziale Angst ist, mich aufzudrängen. Wenn jemand extra wohin fährt, um mit mir zu reden, ist das unwahrscheinlich. Er wird es mir leicht machen und versuchen sich von seiner besten Seite zu zeigen. Und nein, ich tu es nicht für die gratis Drinks.
Guter Zeitvertreib
Okay, vielleicht bin ich doch ein bisschen verzweifelt. Ich habe nicht so viele Hobbys. Besonders an Wochentagen will ich manchmal noch etwas unternehmen, damit ich nicht das Gefühl habe, nur zu arbeiten. Oder (als ich Student und/oder arbeitslos war) nur rumzuhängen. An manchen Tagen hab ich einfach Lust jemand Neues kennen zu lernen. Und für mich ist dieser Weg der unkomplizierteste.
Wenig Tabus
Kennenlernen ist anstrengend. Vor allem, weil man sein Interesse anfangs verstecken muss und ganz locker an die Sache rangehen sollte. In der Tinder-Situation wissen wir alle, es ist ein Date. Und wir haben nichts zu verlieren. Also kann man auch mal persönliche Dinge fragen, wenn sie gerade zum Thema passen. Vor allem in Gruppen ist es doch viel schwieriger sich kennen zu lernen.
Interessante Perspektiven
Du kommst beim Tinder-Date zwar nicht immer raus aus deiner sozialen Blase – aber eben doch öfter, als im normalen Leben. Meistens matche ich schon Leute, die irgendwie sympathisch sind. Aber manchmal sind das trotzdem Menschen, die andere Erfahrungen gemacht haben, als ich. Oder in mancher Hinsicht extremer sind, als ich. Bei Freundes Freunden ist das dagegen eher selten der Fall. Es gab zum Beispiel folgende Tinderboys: Den von der Antifa, den Dom, den Dancehall-Sänger, mehrere mit offener Beziehung und einen, der sich an Fleischerhaken aufgehängt hat. Natürlich waren sie alle viel mehr als das. Diese Stichworte sollen nur verdeutlichen, inwiefern sie mir von Erlebnissen erzählen und meine Schranken im Kopf verschieben konnten. Und manchmal trifft man in dieser Tinderwelt auch auf jemanden, der ganz anders ist. Zum Beispiel Polizist.
Da kommt vielleicht nicht jeder drauf klar, aber es gibt ja immer noch die Möglichkeit sich höflich zu verabschieden. Abgesehen davon, waren vereinzelt echte Glücksgriffe dabei. Die sollte man aber auf keinen Fall erwarten, sondern den netten Abend an sich zelebrieren.
