Volle Erfahrung voraus

Paul Esra Martin, 18 Jahre, aus Schöneberg fragt: „Was ist eure schönste Weihnachtserfahrung?“

Foto: Raufeld

Frau Haube: Alle Jahre wieder ist es schwer, den Weihnachtskoller von meinem Mann im Zaum zu halten. „Es weihnachtet schon wieder!“, stellt er irgendwann mit tiefen Furchen in der Stirn fest. Dann wissen wir, dass wir engelsgleiche Geduld aufbringen müssen. Die nächste Stufe setzt ein, wenn ich frage: „Scha-hatz, ist es o.k., wenn du dich dieses Jahr wieder um einen Weihnachtsbaum kümmerst?“ Diese Frage löst ein rastloses Hin- und Herstapfen aus. Und ein: „Es ist mir ein Graus. Weihnachten ist mir so ein Graus!“ Er nötigt uns dann, seine Lieblingsweihnachts-CD aufzulegen: „Heavy X-Mas“. Damit hätten wir die Mittelstufe des Weihnachtskollers geschafft. 
Der Höhepunkt der schlechten Laune folgt auf die Frage, ob er dieses Jahr gedenkt, ein paar kleine Geschenke zu besorgen. Nun folgt ein Gezeter und Klagen, dass er keine Ideen habe und im Übrigen jetzt der Zeitpunkt gekommen sei, aus der gemeinsamen Wohnung auszuziehen.
Wir haben uns jahrelang darüber Gedanken gemacht, warum mein Mann solch einen Koller bekommt. Wir haben seine Mutter befragt und auch seine ältere Schwester. Sie wissen es nicht. Wir glauben, dass er Angst hat zu versagen. Oft genug haben wir gelacht, wenn er einen Krückstock im Wohnzimmer aufgestellt hat. Und unsere Gesichter strahlten beim Auspacken seiner Geschenke nicht immer besonders hell. 
Am Ende bekommen wir es immer wieder hin, dass er das Kofferpacken aufs nächste Jahr verschiebt. Dann wirkt er sogar entspannt, freut sich über seine Geschenke und über uns, die ihn trotz allem lieben. Meine schönste Weihnachtserfahrung ist also, dass wir es jedes Jahr aufs Neue schaffen, einem Menschen eine Freude zu bereiten, auch wenn er sich mit Händen und Füßen dagegen sträubt. Eure Rosi

Herr Höff: In Bezug auf Weihnachtserlebnisse fällt mir immer die Geschichte von Heinrich Böll „Und das nicht nur zur Weihnachtszeit“ ein, in der nach dem Zweiten Weltkrieg eine Familie endlich wieder alle Utensilien beisammen hat, um in kleinbürgerlicher Manier Weihnachten zu feiern.
Der Baum kann wieder brauchmäßig geschmückt werden, und der obenauf platzierte Engel flüstert der Situation angemessen „Frieden“. Das wäre soweit o.k., wenn das Dekor nach Weihnachten abgeräumt werden könnte. Nur ein, allerdings wichtiges, Familienmitglied erlaubt das nicht. Tante X bekommt Schreikrämpfe, sobald ein entsprechender Versuch unternommen wird, und die Familie ist gezwungen, das Weihnachtsspektakel endlos fortzusetzen.
Der recht kritische Christ Heinrich Böll stört sich zu Recht an der inhaltslosen Praktizierung eines Weihnachtsrituals, das die eigent­liche Botschaft des Festes annulliert. Die nach Lukas 2,11-14 von Engeln verkündete Nachricht lautete, dass Christus geboren wurde und in einer Futterkrippe liegt. Die entscheidenden Heilstaten Gottes gehen also nicht konform mit königlichem Pomp oder kleinbürgerlichem Getue, sondern erfordern die Erkenntnis, dass Großes in Unscheinbarem geschieht. In welcher Weise diese Erkenntnis in die Praxis einer Weihnachtsfeier umgesetzt werden kann, ist sicher situationsbedingt. Für mich ist jedenfalls der Inhalt wichtiger als die Form. Euer Manfred

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