Fingerschwur
Ich schwöre!!

„Spiel mit der Wahrheit“: Sechs Wochen Notlügen-Fasten

Kleine Notlügen sind das moralische Fast Food, wenn die Wahrheit auf den ersten Bissen Magenschmerzen verspricht. Doch so wirklich gesund fühlt sich das meist nicht an. Margarethe fastet daher sechs Wochen Notlügen. Ob die dadurch mit sich ins Reine kommt – oder auf direktem Wege in Teufels Küche?

Margarethe Neubauer, 23 Jahre

Tagebucheintrag vom 28. März: Lügen haben Güteklassen

Fast habe ich ausgefastet. Am Wochenhorizont glänzt der Ostersonntag als offizielle Ziellinie meines Hürdenlaufs über die bequemen Flunkereien des Alltags. Die klassischen Süßkram-Asketen und Fleischverzichterinnen zücken zweifelsohne bereits die Rotstifte, um endlich ihre Kreuze im Kalender zu machen (eine pietätlose Anspielung auf die Passion Christi spare ich mir bei dieser Redewendung besser). Ich jedoch verfalle in Nachdenklichkeit. Bedeutet das Ende der Fastenzeit automatisch die Rückkehr zum Spiel mit der Wahrheit?

„Spiel mit der Wahrheit“ – da höre ich doch meinen Pathosmelder schrillen. So schlimm, und das ist eine Kardinalerkenntnis der vergangenen Wochen, steht es um mein Ehrlichkeitskarma gar nicht. Ich bin nur achtsamer geworden, habe recherchiert, wann mein Gehirn die Autopilotin für semi-korrekte Antworten aktiviert.

Wie bei vermutlich den meisten Menschen funktionieren meine Ausreden nach dem Tiefkühlpizzen-Prinzip: In den heißen Ofen der Konversation geschoben, sind sie schnell fertig, stoppen kurzfristig das Magenknurren. Der Belag ist und bleibt aber ranzig. Bei der Tiefkühlkost gibt es zwischen den Herstellern natürlich Qualitätsunterschiede. Selbiges habe ich beim Fasten herausgefunden: Lügen haben Güteklassen. Das ist sicher eine streitbare Behauptung. Dennoch fiel mir der Verzicht, je nach Motivation für den Spontanschwindel, unterschiedlich schwer.

Ausreden aus Eigensucht – da ist der innere Schweinehund am Start, der sich Mühen ersparen und Fehler vertuschen möchte. Ihn an die Leine zu nehmen heißt hauptsächlich Komfortzonenflucht, zwickt also erst mal ein bisschen. Allerdings: Welch erhebendes Gefühl, gegenüber mir selbst, dem verhätschelten Lieblingskind des eigenen Egos, konsequent zu sein (Wow, bin ich jetzt reif und erwachsen?).

Ausreden aus Altruismus – bleiben in meinen Augen eine moralische Grauzone. Die Gefühle anderer zu schonen, ist womöglich das „edelste“ Motiv, um der Wahrheit ein dezentes, ähm, „Makeover“ zu verpassen. (Liebe Grüße an meine Oma: Wäre der rote Strickpulli nicht in der Wäsche eingelaufen, ich schwöre, ich würde ihn anziehen!).

Mein Lernergebnis? Moralisches Handeln lässt sich nicht nach Anleitung zurechtbasteln wie ein Ikea-Regal. Und ja, wahrscheinlich werde ich auch in Zukunft manchmal Schrauben nachziehen. Worauf ich jedoch verzichten möchte: Ausreden, hinter denen ich meine Bedürfnisse verstecke. Egal, wie die Verpackung aussieht – meine Zufriedenheit hätte damit sicher ein längeres Haltbarkeitsdatum.

Tagebucheintrag vom 21. März: Mit Mama in Las Vegas

Sieben Tage in der Stadt der Sünde. Kein anderer Urlaubsort erscheint mir derart prädestiniert zu sein, meine Fastenvorsätze ins Nevada, Verzeihung, ins Nirvana zu katapultieren, wie die Casino-Metropole Las Vegas. Ich sorge mich jedoch erst in zweiter Linie um nervige Junggesellenabschiede, zu deren Vertreibung mir ein Ausreden-Ass aus dem Ärmel fallen könnte. Die potentielle Fastenerfolgsfeindin spielt in meinem eigenen Team. Sie heißt Mama.

Dass die eigene Mutter der Prototyp aller Notlügen-Adressatinnen ist, weiß jeder, der selbst eine hat. Unerledigte Hausaufgaben, spontane Übernachtungspartys, Zigarettenstummel – ihr kennt das Programm. Mit Mitte Zwanzig läuft das natürlich ganz anders. Kleiner Spoiler: Nein, tut es nicht. Mama bleibt Mama.

Mit ihrem Englisch verhält es sich wie mit meinem Geschick fürs Roulette – es ist quasi non-existent. Als wir wie Legofiguren in einem Helikopter sitzen, witzelt der Pilot in Landessprache: „Wird schon schiefgehen, ist ja nicht mein erster Tag.“ Einige Höhenmeter später folgt die weniger witzige Auflösung – es ist tatsächlich der Jungfernflug unseres Piloten. „Was hat er gesagt?“, fragt meine Begleitung. Oje, jetzt bloß keine Panik verbreiten. „Gut festhalten“, sage ich, während meine eigene Höhenangst in das Innenfutter meiner Kunstlederjacke transpiriert. Das fällt dann wohl unter übersetzerische Freiheit.

Kurz darauf, im Innenhof eines mexikanischen Restaurants. Unser Dinner wird zur Verwechslungstragödie. In den Hauptrollen: Jalapeños und Paprika. „Sagst du mir bitte, wenn ich wieder normal aussehe?“, bittet meine Mutter. Eine lange Zeit über herrscht Stille. „Wie geht’s meinem Make-Up?“ Es ist ein schmaler Grat zwischen Notlüge und Diplomatie. Wie nur verpacke ich „Gesichtsfarbe: Salsasoße“ am schmeichelhaftesten? Das kalkulierte Anpassen der Wahrheit (aka Lügen) hat trotz seiner hässlichen Fassade zuweilen ein solides Fundament: Rücksicht.

So antworte ich auf „Ist das Bild okay geworden?“ nicht „Nein, Mama, ich sehe aus wie ein schwangerer Porzellan-Hamster“, sondern verweise auf ungünstige Lichtverhältnisse und stelle heimlich den Blitz aus. Ich befinde: Für den Familienfrieden darf auch mal geflunkert werden. Wenigstens im Urlaub.

Tagebucheintrag vom 14. März: Ich will einfach nicht!

Es ist Abend, pechfinster, und vor meinem Fenster schimmelt die Stadt. An der regennassen Bushaltestelle frieren gekrümmte Gestalten. Miese Laune blitzt unter ihren Kapuzen hervor. Ich hingegen frohlocke. Bin schon im Jogginghosen-Modus – der mit Sport natürlich nicht das Geringste zu tun hat. Gerade wende ich mich der zur Stunde relevanten Frage zu: Sollte ich mir zum Serien-Binging süßes oder salziges Popcorn servieren? „Pling!“ quengelt mein Messenger. Ich angle mein Smartphone und ahne Schlimmes.

Eine Fern-Freundin ist besuchsweise in der Stadt, möchte mich sehen. Fein. Sie hat Feiermotivation im Gepäck. Weniger fein. Ich spüre, wie sich der Flanellstoff meiner Hose an mich klammert, zur zweiten Haut wird. Ich, da raus, jetzt noch? Nicht nur verkörpere ich in meinem aktuellen Aufzug das, was Modeschöpfer Karl Lagerfeld einen Kontrollverlust nennen würde – ich habe einfach keinen Bock. Aber darf ich das? Ist Unlust Grund genug, eine Verabredung zu verschmähen?

„Natürlich nicht“, mahnt die Sozial-Diktatorin in meinem Kopf. Wie ließe sich das denn auch verkaufen? Mein Wunsch nach Solo-Gammelei vor dem Laptop erscheint mir gesellschaftlich vollkommen inakzeptabel, wenn die Alternative gesellig, laut und bunt ist. In meinem Alter sollte mehr Action erwünscht sein als eine knisternde Chipstüte. Aus Angst, der Frühvergreisung bezichtigt zu werden, durchstöbere ich also meinen Ausredenkatalog: Kopfschmerzen, Kater, Schlüssel verlegt, keine sauberen Socken…

Ja, ich komme mir selbst albern vor. Und grübele dem Gedanken hinterher, warum es manchmal so schwer fällt, zu den eigenen Bedürfnissen zu stehen. Warum die vermeintliche Kollektivmeinung zum Maßstab wird. Heute will ich eben nur mit mir abhängen, die Snacks mit niemandem teilen, mein knielanges Tupac-Shirt vollkrümeln. Und das ist mein gutes Recht! Ich texte zurück: „Sorry, bin nicht in Feierlaune. Wie wär’s morgen mit einem Späti-Bier?“ Mein Gewissen ist rein wie das langweilige stille Wasser, das ich mir jetzt gönne.

Tagebucheintrag vom 7. März: Lügen aus Barmherzigkeit

Alle Jahre wieder: Trotz teurer Spinat-Smoothies und eines ausgeklügelten Strumpfhosen-Zwiebelsystems erwischt mich die winterliche Grippewelle als fieser Fieber-Tsunami. Ich wittere in meinem Leid ein schmerzhaftes Alibi – Husten und Schüttelfrost vertragen sich bekanntlich schlecht mit ambitionierten Bibliothekstagen, Putzdiensten und mittelfreudig erwarteten Verabredungen. Eigentlich praktisch. Doch bald tauchen erste Probleme auf.

„Von dir hört man ja gar nichts mehr“, beschwert sich mein Vater nach einigen Tagen der Funkstille. Der Grund ist offensichtlich: Ich klinge wie Henning May nach einem „All you can drink“-Whiskeyabend und einer Stange Marlboro zum Nachtisch. Sicher wäre es ein Leichtes, meinen elenden Zustand zu offenbaren und mir, in den Telefonhörer röchelnd, ein Mitleids-Carepaket aus der Heimat zu erjammern. Aber ich möchte ungern für elterliche Sorgen sorgen – es reicht doch, dass meine Grippe eine Person zum Schwitzen bringt. Wäre eine Ausrede in diesem Fall nicht quasi „Lügen aus Barmherzigkeit“?

Dieser Aspekt des Notlügens pocht in den kommenden Tagen des Öfteren gegen meine fiebrige Stirn. Denke ich mir nicht hauptsächlich Geschichten aus, um die Gefühle anderer zu schonen, sie nicht zu beunruhigen oder zu verletzen? Meine Mitmenschen glücklich lügen – das klingt schon sehr edel. Und eklig selbstgerecht.

Schließlich beiße ich in den sauren Apfel – hätte ich das mal vor meiner Krankheit getan! – und oute mich als von der Grippe heimgesucht. Irgendwie spüre ich eine kindliche Erleichterung, jetzt, da meine Eltern eingeweiht sind.

Als meine Oma mich zwei Tage später am Telefon erwischt, lautet ihr erster Satz: „Du bist ja erkältet!“ Vorwurfsvoll, besorgt. Für sie, die auch nach 23 Jahren noch kontrolliert, ob ich nördlich der Sahara immer ein Unterhemd trage, ist jeder Schnupfen eine Eintrittskarte für die Intensivstation. Ich ringe also mit meinem Fastengewissen – und entscheide mich für die Lüge. „Nee, Omi, das täuscht. Stimme belegt, bin gerade erst aufgestanden. Du weißt ja, das Studentinnenleben beginnt erst, wenn die Sonne im Zenit steht.“ Sie schluckt meine Story, ich Hustensaft.

Das Fasten habe ich also gebrochen – noch vor der Halbzeit –, aber meiner Oma ein paar schlaflose Nächte erspart. Ich fühle mich ein bisschen wie eine gute Samariterin.

Tagebucheintrag vom 28. Februar: Notlügen treffen uns selbst

Die ersten Tage meiner Challenge sind ein Spaziergang. Ich sage meinem Schlagzeuglehrer geradeheraus, dass ich nicht geübt habe, und er ist nachsichtig mit meinem miserablen Spiel. Den Kuchen, den mein Mitbewohner backt, bewerte ich diplomatisch, ohne falsche Begeisterung. Ich sage „Tut mir leid, ich bin zu fertig, um noch vorbeizukommen“ und erfinde keine Verpflichtung im WG-Haushalt. Um meine Meinung kommt keine hübsche Schleife, sie bleibt schlicht und transparent. Ziemlich easy – vor den anderen. Aber wie ehrlich bin ich eigentlich zu mir selbst?

An einem Spätnachmittag schaukelt mich die U8 durch die Eingeweide von Mitte. Zwischen abgekämpften Feierabendgesichtern schiebt sich ein Mann mit Rucksack und Trainingshose die Sitzreihen entlang, hält einen Pappbecher umklammert. „Entschuldigen Sie die Störung, haben Sie vielleicht noch 10, 20 Cent?“

Die Gesichter bleiben leer wie der Pappbecher und auch ich schaue routiniert auf meine Schuhspitzen. 10, 20 Cent. Ich denke an das Klimpergeld in meinem Portemonnaie, diverse Kupfermünzen, die habe ich doch noch. Aber jetzt mit der Hand in den Tiefen meines Rucksacks wühlen? Ach, bestimmt habe ich die Münzen vorhin im Café schon herausgegeben. Der Tauchgang in meine Tasche würde sich somit gar nicht lohnen.

Bequemlichkeit ist ein ziemlich mieser Grund, um Ausreden zu erfinden. Zumindest mit dem Wissen, dass ich das Geld in meinen nächsten Komfort-Cappuccino auf dem Bahnsteig investieren würde. Geld, das stattdessen ein Loch im Bauch schließen könnte. Ich krame also doch danach, finde ein blankes 50 Cent-Stück und bekomme ein Lächeln dafür. War doch gar nicht so schwer.

Mir wird bewusst, dass nicht selten ich selbst die Zielscheibe meiner Ausflüchte bin. Wichtiges wird hinausgezögert und durch Pseudo-Pflichten ersetzt, vermeintlich gute Taten vorgeschoben, um meine Selbstsucht zu legitimieren. Ich laufe abends um halb zehn zum Supermarkt, kaufe Feinwaschmittel für mein einziges Paar Wollsocken, das müsste ja langsam mal wieder. In die Wohnung kehre ich mit Schoko-Eis zurück. Ist auch hilfreich bei Halsschmerzen. Ich trinke noch ein Glas Rotwein dazu, weil ein Glas Rotwein ziemlich gesund ist. Dabei war ich gerade erst krank, aber die guten Antioxidantien.

Wird es sich besser anfühlen, meine Aktionen als das anzuerkennen, was sie sind? Auch dann, wenn sich in einer „erwachsenen Entscheidung“ doch bloß ein kindisches Bedürfnis versteckt hält?

Tagebucheintrag vom 14. Februar: Warum ich faste

Zufälle gibt’s: Meinen WG-Putzdienst überlagert eine wichtige Seminararbeit, im Gespräch mit dem aufdringlichen Sitznachbarn in der Bahn meldet sich telefonisch mein eifersüchtiger Freund – direkt aus dem Boxring. Kleine Notlügen sind das moralische Fast Food, wenn die Wahrheit auf den ersten Bissen Magenschmerzen verspricht. Doch so wirklich gesund fühlt sich das meist nicht an. Jede Ausrede hinterlässt einen unangenehmen Nachgeschmack. Jetzt steht sechs Wochen lang Detox fürs Gewissen auf dem Plan. Komme ich dadurch mit mir ins Reine oder auf direktem Wege in Teufels Küche? Ich hüpfe vom Ausflüchtekarussell in die alternativlose Ehrlichkeit, in der der Hamster meiner Mitbewohnerin keinen Heuschnupfen mehr hat … 

Margarethe ist nicht die einzige aus der Spreewild-Jugendredaktion, die fastet.

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Beitragsfoto: Fotolia/tatyanabez1970

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Kategorien Fotoserie Gesellschaft Zwischendurch

Schreiben ist meine Neurose. Ich mache das wirklich nicht freiwillig. An pathologischer Schreibwut leide ich etwa seit meinem neunten Lebensjahr. Heute bin ich 24. Sie äußert sich in der übermäßigen Produktion von Texten, dabei reagiere ich sensibel auf gute Geschichten. Schreiben ist mein Plüsch–Airbag gegen Schleudertraumata im täglichen Gedankenkarussell, Weckglas für klebrig-süße Memoirenmarmelade und die doppelte Aspirin am Morgen nach einem exzessiven Empfindungsrausch. Ich habe eine Schwäche für Präpositionen mit Genitiv, Schachtelsätze und Ironie. In die Redaktion komme ich nur, weil es da umsonst Tee gibt.