Roofing

Abrutschen gleich Tod: Unterwegs mit einem Roofer

Mio ist Roofer. Ungesichert klettert er auf hohe Bauwerke. Ein lebensgefährliches Hobby

Es ist fast fünf Uhr an diesem Sonntagmorgen. Noch ist es stockdunkel, lediglich ein paar Lampen erhellen vereinzelt das umzäunte Gelände eines Energiekonzerns im Nordwesten Berlins. Im Schutz der Dunkelheit steigen Mio (Pseudonym des Roofers, um unerkannt zu bleiben – Anm. d. Red.) und sein Kumpel rasch über das Eingangstor, vorbei an dem Schild, das Fremden den Zutritt verbietet. Geduckt huschen sie zu einem frei stehenden Schornstein. Immer wieder schauen sie sich um, ob sie auch wirklich alleine sind. An der Außenwand des Schlots führt eine Leiter 150 Meter senkrecht in die Höhe. Stufe für Stufe klettern die beiden nach oben. Mio ist ein sogenannter Roofer. Er klettert meist illegal und immer ohne Sicherung auf hohe Türme, Masten oder Dächer.

Roofing
Allein die Höhe reicht Mio als Adrenalinkick nicht mehr aus. Foto: mio.roofing

Eine Zeit lang hatte er Kontakt zur Graffiti-Szene, begleitete die Sprayer auf ihren Touren, oftmals auf hohe Gebäude, und machte Fotos für sie. Irgendwann stieg der 19-Jährige aus, weil ihm das Risiko, erwischt zu werden, zu hoch wurde. „Ich merkte, dass mir das Hochklettern und Fotoschießen Spaß macht“, sagt Mio. „Im Gegensatz zu den Sprayern ist es nicht mein Ziel, meinen Namen zu hinterlassen, sondern die Aussicht zu genießen und sie mit Fotos festzuhalten.“ Der gebürtige Würzburger versteht sein Hobby als Chance, aus dem Alltag auszubrechen und einen Ort für sich zu haben, ohne die ständigen Einflüsse der Großstadt.

Eine Windböe kann den Tod bedeuten
Roofing wird immer populärer bei jungen Menschen. Fotos im Netz haben teilweise mehrere Tausend Likes, Videos Hunderttausende Views. Auch in Deutschland gibt es inzwischen einige Roofer – ein äußerst gefährlicher Trend. Im Internet sind Meldungen über zu Tode gestürzte Hochhauskletterer zu finden, teilweise sogar auf Videos festgehalten. Ein Roofer mit dem Pseudonym Aiko7 äußert sich in einem Internetforum abgeklärt zu den Gefahren: „Natürlich gibt es Tote, ich habe selbst schon jemanden abstürzen sehen. Roofing ist gefährlich, aber über Unfälle reden wir nicht gerne. Jeder ist für sich selbst verantwortlich, wer zu übermütig ist oder Pech hat, der fällt halt einfach runter.“ Auch Mio scheint ein lockeres Verhältnis zu den Gefahren seines Hobbys zu haben: „Wenn man weiß, was man tut, und unvorhergesehene Risikofaktoren einplant, dann besteht auch keine Gefahr“, meint er. Die Höhe könne Mio gedanklich ausschalten, er vergleicht den Balanceakt auf einem Fabrikschlot in 150 Metern mit einem Gang über die Gehsteigkante. „Da kann ja auch jeder darüber laufen, ohne runterzufallen.“ Wie wenig Kontrolle Mio in schwindelerregenden Höhen noch darüber hat, ob er sich hällt oder fällt, scheint er nicht zu realisieren. Eine rutschige oder rostige Sprosse, eine Windböe reichen, und der 19-Jährige verliert den Halt.

Dass sich die Gefahren des Roofings kaum mit denen gleichsetzen lassen, die von gewöhnlichen Hobbys Jugendlicher ausgehen, scheinen Roofer nicht realisieren zu wollen. „Jemand soll sich an einen erinnern“, erklärt Artjom Pirmijasow, einer der populärsten russischen Roofer, seine Motivation in einem SternTV-Bericht. Er setzt sein Leben nicht nur für den Nervenkitzel aufs Spiel, ihm geht es um mediale Unsterblichkeit, für die er im Zweifelsfall mit dem leben zahlt.

In Russland ist Roofing extrem weit verbreitet. Von dort kommen auch die meisten waghalsigen Videos und Fotos. Das mag unter anderem daran liegen, dass es dort kaum Strafen auf das Besteigen hoher Gebäude gibt. „Wenn man erwischt wird, muss man umgerechnet ungefähr 13 Euro Strafe zahlen, das hält natürlich kaum einen Roofer ab. Ich glaube, dass viele Russen auch eine risikofreudige Mentalität haben“, sagt Mio. Im Schulunterricht zeigt man dort nun Fotos Verunglückter, in der Hoffnung, Schüler, die mit dem Gedanken spielen, sich im Roofing zu probieren, abzuschrecken. Laut russischem Innenministerium kamen in der ersten Hälfte des Jahres 2015 mindestens zehn Menschen beim Roofing ums Leben, mehr als 100 wurden verletzt. Verluste von Körperteilen seien dabei nicht selten.

Wie viele Jugendliche sich in Berlin beim ungesicherten und illegalen Erklimmen von Bauwerken verletzten, wird statistisch nicht erfasst, teilte die Berliner Polizei auf Nachfrage mit. Ebenso verhält es sich mit dem S-Bahn-Surfen, bei dem auf dem Dach einer fahrenden S-Bahn mitgefahren wird. Kommt es hierbei zu Unfällen, enden auch diese nicht selten tödlich. 2013 gab es einen Vorfall nahe dem S-Bahnhof Buch, bei dem sich ein 22-Jähriger schwer verletzte. Im darauffolgenden Jahr verunglückte ein 19-Jähriger tödlich, als er bei einer Tunneleinfahrt in Schöneberg vom Dach einer Bahn gerissen wurde. 2015 starb ein ebenfalls 19-Jähriger bei der Kollision mit einem Signalmast. Im selben Jahr wurde ein schwer verletzter 14-Jähriger an der Station Treptower Park auf einer S-Bahn gefunden – Fahrgäste hatten einige Stationen zuvor von einem dumpfen Geräusch auf dem Dach berichtet.

Mio zeigt sich davon wenig beeindruckt. Unter dem Synonym mio.roofing lädt er immer wieder Fotos und Videos auf seinen Instagramaccount. Damit möchte er seinen Bekanntheitsgrad steigern und der Welt zeigen, was er in seiner Freizeit macht.

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Inzwischen ist es schon halb sieben an diesem Sonntagmorgen. Mit seiner Kamera hält Mio den Sonnenaufgang fest. Langsam wird es Zeit für den Abstieg, bevor sie noch dort oben auf dem Schornstein entdeckt werden.

Von Roswitha Engelen, 21 Jahre

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Kategorien Gesellschaft Lifestyle Zwischendurch

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