Prominent gefragt: Sibylle Berg

 

 

Sibylle Berg ist Schriftstellerin und Dramatikerin und schreibt für verschiedene Zeitungen und Magazine. Foto: DPA

 

Sibylle Berg fragt die Jugendredaktion: „Ab wann sind Leute für euch richtig alt, und was bedeutet das? Kann man dann noch mit ihnen reden oder ist das langweilig?“

 

 

Die Jugendredaktion antwortet: Liebe Frau Berg, bis etwa zu meinem 18. Geburtstag gab es für mich nichts Langweiligeres als Familienfeste. Die Vorstellung bald anlässlich eines runden Geburtstags mit irgendwelchen Fremden an einem Tisch zu sitzen, die sich als entfernte Verwandte oder Freunde meiner Eltern entpuppten und taten, als würden sie mich kennen, deprimierte mich wochenlang im voraus. Kam dann ein solches Fest, saß man da, aß Braten und lächelte höflich. Irgendwann bekam man Kieferschmerzen vom vielen Höflichsein, dann aß man keinen Braten mehr. Manchmal sagte einer der Fremden, mit denen ich am Tisch saß, er könne sich noch genau daran erinnern, wie ich als Baby ausgesehen hätte, dann lachten die Fremden und ich lächelte höflich trotz Kieferschmerzen und langweilte mich.

Bis etwa zu meinem 16. Geburtstag waren Menschen über 18 für mich alt. Dabei unterteilte sich das Alt-Sein in zwei Stufen. Die zwischen 18 und 28 waren zwar alt, aber ich bewunderte sie für ihr Alter, weil ihr Leben aus meiner Drei-Käse-Hoch-Perspektive so aufregend aussah. Sie wohnten in WGs, in denen sie auf durchgesessenen Sofas in winzigen Küchen saßen und den ganzen Tag Musik hörten, sie konnten sich an einem verregneten Sonntag ins Auto setzen und verreisen und sie hatten Geheimnisse, die ich nicht verstand und die mit Beziehungen zu tun hatten. Ich wollte so ein Leben, auch wenn ich nur eine sehr vage Vorstellung davon hatte, wie genau es war, dieses Leben. Leider kam ich nur selten mit den 18 bis 28-jährigen ins Gespräch, weil ich sie so sehr bewunderte, dass ich ganz schüchtern wurde und sie mich aufgrund meiner Drei-Käse-Höhe übersahen.

Die Menschen über 28 hingegen waren wirklich alt und ich konnte nicht unterscheiden, ob sie erst 29 oder 55 waren. Hatte jemand die 28 überschritten, war er aufgebrochen in ein Leben, das jenseits meines Horizontes lag. Saß ich einem solchen Menschen bei einem Familienfest gegenüber, dann wusste ich nicht, was ich ihn hätte fragen können, weil sein Leben für mich keine Konturen hatte. Wenn er mir Fragen stellte, dann fühlte sich das immer wie Ausfragen an, weil er mich über die Schule fragte und meine Freunde und meine Interessen, statt auch von sich zu erzählen, seinen Interessen und seinen Freunden. Wahrscheinlich hatte mein Leben für ihn auch keine Konturen. Kurz, mit Menschen über 28 konnte ich auch nicht sprechen.

Diese Langweile der Familienfeste hätte noch ewig anhalten können, wenn ich nicht irgendwann eine interessante Entdeckung gemacht hätte. Es muss auf dem 55. Geburtstag meiner Mutter gewesen sein, als ich durch Zufall das Gespräch dreier ihrer Schulfreundinnen hörte. Sie sprachen über eine gemeinsame Freundin, die ein aufregendes Studentenleben gehabt hatte; insbesondere eine pikante Episode brachte alle, mich eingeschlossen, zum Lachen. Später erfuhr ich, dass die Freundin niemand anderes als meine Mutter war. Ich war verblüfft, weil meine Eltern sich in ihren eigenen Erzählungen aus ihrer Jugend immer sehr vorbildlich verhielten. Seitdem versuche ich, auf den Familienfesten immer die Freunde ausfindig zu machen, die bereit sind, mir Dinge über meine Eltern zu erzählen, die diese aus Scham oder Bescheidenheit verschweigen. Meine Eltern, meine Verwandten und ihre Freunde scheinen mir nun nicht mehr so alt. Ich musste nur lernen, die richtigen Fragen zu stellen. Vielleicht bin ich aber auch einfach selbst älter geworden.

 

Ihre Cordula Kehr (21 Jahre)

 

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