Straße in St. Petersburg
Zwiebeltürme in St. Petersburg

Mein Schüleraustausch in St. Petersburg

Helene geht gerade in Russland zur Schule. Hier berichtet sie davon.

Von Helene Harnisch, 16 Jahre

Als ich die ersten Male davon erzählt habe, dass ich für ein paar Monate nach St. Petersburg gehen würde, reagierten die meisten mit Unverständnis: Wieso denn nach Russland? Weißt du nicht, was für ein unfreies Land das ist, wie skrupellos Präsident Putin dort seine Interessen durchsetzt?

Ich habe mich entschieden, die Reise trotzdem anzutreten. Mir mein eigenes Bild zu machen. Mir ist bewusst, dass es große Probleme in Russland gibt – aber deswegen den Kontakt zu einem ganzen Volk vermeiden, das kommt mir falsch vor. Die Verständigung ist der bessere Weg, da bin ich mir sicher.

Teil 1: Klischees – „unfreundlich wie in Berlin“

Anderthalb Wochen bin ich jetzt schon in Sankt Petersburg, aber Wodka habe ich nicht getrunken. Mich beschäftigt das eher weniger, meine Freunde aus Deutschland dagegen sehr. Dieses und andere Russland-Klischees möchte ich bei meinem Schüleraustausch unter die Lupe nehmen.

Außer dem Nicht-Alkoholkonsum haben mich noch weitere Dinge überrascht. Zwar dauert der Winter hier recht lange, von Anfang November bis Ende März etwa, doch es wird gar nicht so kalt, wie man glaubt: Selbst im tiefsten Winter fällt die Temperatur selten unter minus fünf Grad Celsius. Ob das die vielen Miniröcke erklärt?

Sankt Petersburg ist auf jeden Fall nicht mehr so traditionell, wie es mal war: Hier und da tauchen in den heruntergekommenen Nachbarschaften Hipstercafés oder Plattenläden auf, und man sieht Bioläden.

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Das mit dem Umweltschutz ist bei den Leuten hier noch nicht ganz angekommen. Der Müll wird nirgendwo getrennt und dank der Zentralheizung, die der Einzelne weder aus- noch runterdrehen kann, macht man einfach das Fenster auf, wenn einem zu warm wird. Dasselbe gilt übrigens auch für die Wasserversorgung: Geht man duschen, kann man das Wasser im Prinzip die ganze Zeit durchlaufen lassen – zahlen muss man dafür als Haushalt nicht. Aber viele Menschen hier haben ohnehin größere Sorgen, zum Beispiel Armut.

Von der Nettigkeit gegenüber Fremden her schneidet Sankt Petersburg bei mir zwar gleich schlecht ab wie Berlin. Aber die Menschen, die man kennenlernt, sind herzlich und hilfsbereit und doch eher interessiert an kulturellen Unterschieden als davon abgeschreckt. Der böse Russe ist wohl auch so ein Klischee.

Teil 2: Geld – „Die protzen nicht, die zeigen’s nur“

Russland ist ein armes Land. Das wird immer erzählt, und grundsätzlich stimmt das auch. Doch wie in jedem anderen Land gibt es hier auch reiche Leute. Und – egal, ob arm oder reich – viele Russen gehen mit ihrem Geld ganz anders um, als ich es aus Deutschland gewohnt bin.

Hier in Russland spart man sein Geld häufig nicht, man gibt es aus, damit die Leute sehen, wie viel man hat. „Viel“ ist dabei das richtige Wort: Das russische Kaufverhalten zielt eher auf Quantität als auf Qualität ab – und das bei allem. Während der Trend im Westen in Richtung Minimalismus, Understatement oder zumindest, ich sage mal, „sinnvollem“ Umgang mit Geld geht, zieht es die Bevölkerung hier eher zu Prunk, Fast-Fashion und Discountern.

Viele, die es sich leisten können, kaufen hier lieber teure Markenkleidung von Gucci oder Balenciaga als zum Beispiel Bio-Essen. Im Grunde gilt das auch für die ärmeren Menschen. Es ist hier oft wichtiger, auszusehen, als hätte man Geld, als sich zum Beispiel gut zu ernähren oder in einer schönen Wohnung zu leben. Dabei will ich aber nicht verallgemeinern. Schließlich besteht auch Deutschland nicht aus lauter Ökos, die nur mit dem Nötigsten leben und sich von ihrem Geld nichts gönnen.

Abgesehen davon, dass man hier seinen Wohlstand zeigt, wollen viele Russen die Leute wohl auch sehen lassen, dass sie sich Mühe mit ihrem Aussehen gemacht haben. Ein ganz schöner Kontrast zur „I woke up like this“-Bewegung, die im Westen versucht, durch Tipps und Tricks alle wie Naturschönheiten aussehen zu lassen.

Ein bisschen bewundere ich die russische Kultur genau deshalb: Wir im Westen tun alle so, als stünden wir morgens nur zwei Sekunden lang vor dem Spiegel, obwohl es doch eher zwei Stunden waren. Hier in Russland ist man ehrlich und zeigt auch, dass man früher aufsteht, um einen Make-up-Look zu kreieren und die Handtasche mit dem Mantel abzustimmen. Da können also beide Kulturen voneinander lernen.

Teil 3: Diskriminierung – „Die Mutter kann besser putzen“

Meine russische Gastschwester hat mir erzählt, dass sie Angst davor hatte, nach Berlin zu kommen, weil dort so viele Geflüchtete und Ausländer leben. Ein anderes Mädchen hat mir gesagt, dass sie Menschen mit dunkler Haut komisch findet und dass sie sich immer erschreckt, wenn sie „einen von denen“ sieht. Ich wurde auch schon davor gewarnt, an der Moschee vorbeizulaufen. Wegen der vielen Muslime, denn sie könnten mich angreifen. Eine Freundin von mir sagt, dass sie immer ihr Portemonnaie und Handy ganz doll festhält, wenn sie an der Moschee vorbeiläuft. Außerdem soll ich beim Markt aufpassen, denn dort seien „Zigeuner“, die versuchen, einen zu hypnotisieren, um einen dann bestehlen zu können. Auf die Frage, ob ihnen das denn schon mal passiert ist, haben sie mit Nein geantwortet – aber die Eltern haben ihnen ja gesagt …

Das ist genau das Problem: Wie soll man weltoffen denken, wenn die Eltern einem von klein auf erzählen, dass Menschen anderer Herkunft gefährlich sind?

Leider mangelt es St. Petersburg an Vielfalt. Frauen gibt es hier aber ausreichend, und trotzdem werden sie wie Dekoration behandelt. Es fängt in der Schule an. Im geschlechtergetrennten Sportunterricht dürfen wir nur Aerobics machen, und wenn wir doch mal mit den Jungs Sport haben, müssen wir zuschauen. Mädchen können sich beim Volleyball ja verletzen.

Im Deutschunterricht ist beim Thema „Familie“ – Vater, Mutter, Kind – der Vater für das Geldverdienen und das Auto zuständig, die Mutter kann dafür aber besser putzen, kochen und sich um die Kinder kümmern. Als jemand erwähnt, dass man nicht zwingend jemanden vom anderen Geschlecht heiraten muss, sagt unsere Lehrerin, dass sie darüber nicht sprechen will.

Auch wenn immer mehr Jugendliche hier das Thema LGBTIQ akzeptieren und unterstützen, sind Sexismus und Rassismus hier scheinbar noch normal. Und ich weiß nicht so recht, wie ich damit umgehen soll. Normalerweise rede ich mit den Leuten hier wie mit meiner Oma, wenn sie sich über „die Ausländer“ aufregt – ich lache, stimme zu oder sage gar nichts. Ob das so richtig ist, weiß ich nicht. Jedenfalls werde ich hier auch nichts Politisches mehr in den sozialen Medien posten. Ich habe schon mehrere böse Kommentare von Mitschülern deswegen bekommen.

Bilder: Helene Harnisch

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