Eine Straße in St. Petersburg

Russland: Das merkwürdigste Land

Drei Monate Schüleraustausch in Russland. Ein Erfahrungsbericht und die Erkenntnis: Das ist das merkwürdigste Land, das ich je besucht habe.

Russland hat mir doch sehr gefehlt. Das merke ich jetzt, wo ich nach einer Winterpause in Deutschland für die letzten Tage meines Aufenthalts nach St. Petersburg zurückgekehrt bin (die ersten Berichte lest ihr hier). Es ist sehr beruhigend, wie simpel das Leben hier ist. Dass fast keins der Geschäfte hier richtige Namen hat, sondern einfach nur das darüber steht, was sie verkaufen bzw. anbieten. Dass in den Straßen unzählige ältere Frauen sitzen und Eingemachtes verkaufen.

Die „Einfachheit“ zeigt sich aber auch darin, dass hier fast jeder nur das macht, was er gemäß seinem Geschlecht machen „sollte“. Natürlich nervt das, wenn man es nicht gewohnt ist. Es gibt Dinge, die ich hier nicht machen kann, weil ich ein Mädchen bin: Volleyball spielen, selbstbewusst auftreten oder leichtsinnig handeln. Das englische Sprichwort „Boys will be boys“ hört man hier praktisch als Echo in den Straßen, es ist hier fast ein Lebensmotto.

Vieles ist hier einfach, einiges auch zu einfach

Für mich heutzutage nicht mehr nachvollziehbar. In Berlin kann nach meinen Erfahrungen jeder unabhängig der geschlechtlichen Identität alles machen und wird (meistens) nicht schräg angeguckt. Wenn ich aber einen Euro für jeden komischen Blick, den ich hier in Russland erhalte, bekommen würde, wäre ich reich! Und das, obwohl St. Petersburg eher auf der progressiven Seite Russlands steht.

Helene während ihres Austauschs (c) Privat

Schon öfter wurde ich hier nach meinem Geschlecht gefragt, und da ist mir aufgefallen, wie schwer das Leben hier doch als geschlechts-unspezifische Person sein muss. Das fängt natürlich schon damit an, dass so eine Identität in Russland von vielen einfach noch nicht akzeptiert wird, doch rein praktisch geht es auch sehr schlecht, denn fast jedes Wort in der russischen Sprache muss je nach Geschlecht verändert werden. (Im Deutschen gibt es zwar geschlechtsneutrale Artikel wie xier, xies, xiesem usw., doch die sind auch so untauglich für die Umgangssprache, dass sie niemand verwendet, wenn man sie überhaupt kennt.)

Was mir hier auch stark auffällt, ist die Ungerechtigkeit. Vieles ist rechtlich grenzwertig. Das offizielle Rechtssystem hat anscheinend nicht viel mit dem zu tun, was wirklich passiert. Zahlreiche Geschichten von kriminellen Polizisten wurden mir schon erzählt, von unberechtigten Verhaftungen und zu harten Strafen.

Als Touristin wurde mir oft mulmig

Mir als Touristin wird oft mulmig. Es ist nicht so, dass rechts und links beliebig Reisende festgenommen werden, sondern eher so, dass einem die Regierung, schon bevor man das Land betritt, klarmacht, dass sie einen eigentlich nicht haben will. Allein ein Visum zu bekommen, ist nahezu unmöglich – mein Antrag wurde dreimal abgelehnt. Ich habe mittlerweile das Gefühl, der Kreml würde es am liebsten wie Nordkorea machen: nur Guided Tours, 24/7 überwacht, übernachten in ausgewählten Hotels statt in Gastfamilien. Mir ist meine eigene Unfreiheit als Besucherin in diesem Land jedenfalls bewusst, ständig muss ich mir darüber Gedanken machen. Vielleicht, weil der Kontrast so groß ist, fällt mir dagegen die extreme Gastfreundlichkeit der Einzelnen so stark auf.

Russland ist das merkwürdigste Land, das ich jemals besucht habe. Doch genau das gefällt mir daran. Nichts ist so wie im Rest der Welt und nach meinen Reiseerfahrungen ist es nirgendwo in der Welt so wie in Russland. In St. Petersburg kann man vieles entdecken, aber das nur, wenn man seine Komfortzone verlässt. Deshalb könnte ich hier trotzdem nie leben. Um mir ein eigenes Bild vom bei vielen in Deutschland so verhassten Russland zu machen, war es das aber allemal wert. Helene Harnisch, 16 Jahre

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