Tausende Berliner schwänzen die Schule – ein Jugendprojekt zeigt einen Ausweg

Die Zahl der Berliner Schüler, die massiv die Schule schwänzen ist hoch. Anzeigen und Bußgelder laufen ins Leere. MOVE will helfen. Ein Besuch.

Von Friederike Deichsler, 21 Jahre

Bevor der Unterricht beginnt, wischt die Lehrerin erst mal die Zeichnung eines Kackhaufens vom Whiteboard. An dem ovalen Konferenztisch sitzt nur ein einziger Schüler, das Basecap tief ins Gesicht gezogen, Kopfhörer im Ohr. Wir sind nicht in der Schule, sondern im vierten Stock eines Gewerbegebäudes im Wedding, beim Jugendhilfeprojekt MOVE. Hier lernen Schüler zwischen 14 und 17 Jahren, für die Regelunterricht aus verschiedenen Gründen nicht möglich ist. Oft haben sie vor dem Projekt über Wochen und Monate die Schule geschwänzt.

So wie die 14-jährige Lena* (Name von der Redaktion geändert). Zunächst hatte sie aufgrund von ADHS vor allem Konzentrationsschwierigkeiten, aber recht gute Noten. An der Sekundarschule spitzte sich die Situation zu. Sie kam nicht mit den Mitschülern zurecht, wurde gemobbt, weil sie nicht bei ihren leiblichen Eltern lebt. Irgendwann wurde alles zu viel und Lena machte komplett zu.

Auch zu Hause gab es Stress. „Es lief immer gleich ab. Wir haben Hausaufgaben gemacht, ich habe sie nicht verstanden. Wir haben uns gestritten und ich habe angefangen zu weinen“, erzählt sie. In der Schule kam sie nicht mehr mit, schrieb nur noch Sechsen. Irgendwann gaben die Lehrer sie auf.

„Oft sind solche Schüler an ihrer Schule nicht mehr gewollt.“

Nicht selten stecken Mobbing, eine Lernschwäche oder familiäre Probleme hinter dauerhaftem Schwänzen. „Oft sind solche Schüler an ihrer Schule nicht mehr gewollt“, erklärt MOVE-Lehrerin Nesrin Kopp. In Schulersatzprojekten landen sie in der Regel über das Jugendamt, das den Bedarf feststellt und die Teilnahme finanziert – vorausgesetzt, es ist ein Platz frei. Lena kam schnell unter, war aber zunächst skeptisch: „Ich habe rumgemotzt, dass ich hier nicht hinwill, sondern einfach zu Hause in meinem Bett bleiben und schlafen will.“ Ihr Vater stellte sie vor die Wahl: Entweder zu MOVE oder zurück zur alten Schule. Lena blieb. „Am Anfang kam sie immer ziemlich schlecht gelaunt hier an“, erinnert sich ihre Bezugsbetreuerin. Sie übernimmt die Kommunikation mit der alten Schule oder dem Jugendamt. Daraus entsteht oft ein besonderes Verhältnis.

Von 8 bis 14 Uhr sind die Jugendlichen in den Einrichtungen, essen mit den Betreuern, werden unterrichtet und arbeiten danach in Projekten. Einmal die Woche geht es zum Sport. Dieser Tagesablauf koste mehr Überwindung, als es den Anschein hat. „Einige sind ein Jahr lang nicht zur Schule gegangen. Wenn die dreimal die Woche herkommen und durchhalten, ist das schon super“, meint Kopp.

Lena kommt inzwischen gerne. „Ich habe schlechte Laune, wenn ich mal einen Tag nicht hier bin“, sagt sie und muss lachen. Auch ihr Vater berichtet: „Die Aggressionen sind besser geworden und auch der Umgang mit anderen.“ Für solche Erfolgsgeschichten muss das Team viel leisten. Sie laufen ihren Schützlingen wortwörtlich hinterher, rufen morgens an, erklären im Unterricht jeden Schritt. Ausreden oder vorgeschobene Arzttermine gehören zum Alltag. Einfach aus dem Projekt aussteigen können die Jugendlichen nämlich nicht. In einer sogenannten Hilfekonferenz mit dem Jugendamt werden alle sechs Monate Fortschritte und Weiterförderung besprochen. Die Zeit dazwischen kann nervenaufreibend sein, weiß Birgit Knispel, die seit 18 Jahren bei MOVE arbeitet: „Man muss ständig motivieren und schafft es nicht.“

„Wir können hier besser auf die Schüler eingehen, die Menschen sehen.“

Die Betreuer wissen, wie schwer es ist, auf alle Bedürfnisse einzugehen. Für ihre Kollegen an Regelschulen haben sie Verständnis. „Da müssen alle 30 Schüler funktionieren. Die, die das nicht tun, haben das Nachsehen“, sagt Lenas Bezugsbetreuerin. „Wir können hier besser auf die Schüler eingehen, die Menschen sehen.“

In externen Prüfungen können die Schüler die Berufsbildungsreife und die erweiterte Berufsbildungsreife erwerben, was ihnen eine Ausbildung ermöglicht. Steht kein Abschluss in Aussicht, bemühen sich die Betreuer um eine Anschlussmaßnahme.

Bei Lena sieht es gut aus. Vor Kurzem hat sie ein dreiwöchiges Praktikum in einem Altenpflegeheim gemacht und es als eine der wenigen auch bis zum Ende durchgezogen. Sie wird ein gutes Zeugnis bekommen und möchte später eine Ausbildung in diesem Bereich machen.

Schulpflicht

  • In Berlin endet die Schulpflicht mit dem Ablauf des zehnten Schulbesuchsjahres.
  • Unentschuldigtes Fehlen gilt als Verletzung der Schulpflicht. Wenn die gesetzlichen Pflichten der Anwesenheit und Mitarbeit missachtet werden, drohen dem Schüler Erziehungs- oder Ordnungsmaßnahmen.
  • Als Strafen werden Bußgeldbescheide und Schulzwang eingesetzt. Beim Schulzwang wird der Schüler von der Polizei zu Hause abgeholt und zur Schule gebracht.
  • Mit 11,2 Prozent (Landesamt für Statistik) hat Berlin die bundesweit höchste Schulabbrecherquote.

Foto: Picture Alliance/ZB

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Kategorien Schule Schule & Zukunft

„Wenn Sie Journalistin werden wollen, sind Sie in diesem Studiengang falsch“, hörte ich im ersten Semester nicht nur einmal. Trotzdem habe ich mittlerweile, mit 22, meinen Abschluss – und arbeite stetig daran, den Zweiflern das Gegenteil zu beweisen. Denn das Schreiben lasse ich mir nicht mehr wegnehmen. Es ersetzt für mich rauschzustandsauslösende Substanzen, es ist mein Ventil, wenn die Gedanken zu laut schreien und kein Platz für ekstatisches Tanzen ist. Schreiben kann ich über all das, wonach niemand fragt, was im Gespräch niemand von mir wissen will. Am spannendsten ist aber, anderen Menschen zuzuhören und ihre Geschichte zu erzählen.