Immer mehr Studenten brauchen psychologische Beratung

Depressionen, Versagensängste, Orientierungsprobleme. Immer mehr Studenten statten auf dem Weg zum Bachelor- oder Masterabschluss der psychologischen Beratungsstelle ihrer Universität einen Besuch ab. Ein Psychologe und eine Studentin haben Spreewild Rede und Antwort gestanden, was die Akademiker von Morgen so aus dem Lot bringt.

Studieren ohne Ende, sich zehn oder zwölf Semester für den Bachelorabschluss nehmen, hin und wieder in einer Bar jobben, um die letzten Kröten für die Miete zusammenkratzen zu können und danach natürlich noch einen Master. In Summe macht das dann eben schon mal neun Jahre – die beste Zeit des Lebens.

Wenn Eltern von ihrer Studienzeit erzählen, verspürt so mancher ein schmerzhaftes Ziehen in der Hirngegend, denn die Zeiten von endlosem Dahinlernen und die Seele baumeln lassen sind endgültig vorbei. Der Leistungsdruck steigt, die Wahl des richtigen Studienfaches wird für viele zur Herausforderung. Ohne gute Noten ist der Masterplatz aussichtslos.  Darüber hinaus reicht ein einziger Abschluss in manchen Fachgebieten schon lange nicht mehr aus, um den Traumjob zu ergattern.

Durch die Umstellung auf das Bachelor-Master-System entstanden neue Anliegen der Studierenden bei den Beratungsstellen – zum Beispiel die Stressbelastung

Unter den Folgen dieses Wettkampfes leiden nicht nur die Betroffenen selbst, auch die universitätspsychologischen Dienste spüren die Auswirkungen. „Seit der Umstellung auf das Bachelor-Master-System haben wir einen Anstieg von beinahe 20 Prozent bei gleichbleibender, personeller Ausstattung. Pro Jahr nehmen etwa 1 000 Studierende unser Angebot in Anspruch“, erzählt Hans-Werner Rückert, Diplompsychologe und Leiter der Psychologischen Beratung der Freien Universität Berlin.

Die Anliegen der Studierenden hätten sich hingegen nur unwesentlich verändert. Auf Platz eins stünden seit beinahe 40 Jahren Leistungs- und Motivationsstörungen. „Sie fragen sich, ob es das Richtige ist, schaffen es nicht, sich mit der nötigen Motivation auf Prüfungen vorzubereiten“, so Rückert. „An zweiter Stelle kommt dann auch schon die Depression, die sich immer weiter nach vorne arbeitet. Zu guter Letzt bleibt noch die Stressbelastung, eine Sparte, die vor der Bachelor-Master-Einführung nicht einmal existierte, momentan jedoch rasant im Wachsen begriffen ist. Insgesamt ist es bei vielen eine Mischung aus alldem – für die Psyche eine Achterbahnfahrt.“

„Wenn die Motivation sinkt und du aber auch gleichzeitig keinen Wissensinput aus Veranstaltungen mehr mitnimmst, ist das ein Teufelskreis. Dann läuft es nur noch so dahin, die Zielstrebigkeit geht verloren.“

Die Zahlen sind alarmierend, spiegeln jedoch den deutschlandweiten Trend wider. Kommen noch private Probleme dazu, ist dem Kreislauf aus Motivationsverlust, Versagensängsten und Niedergeschlagenheit kaum noch zu entkommen.

So auch bei Carmen: Sie ist Literaturstudentin in Berlin und hatte schon seit dem Studienbeginn mit persönlichen Problemen zu kämpfen. Die ersten zwei Semester liefen noch gut, doch dann brachte sie ein sexuell anspielender Kommentar des Dozenten aus dem Gleichgewicht. „Ich konnte nicht mehr dahin gehen, wollte generell nicht mehr an die Uni. Wenn die Motivation sinkt und du aber auch gleichzeitig keinen Wissensinput aus Veranstaltungen mehr mitnimmst, ist das ein Teufelskreis. Dann läuft es nur noch so dahin, die Zielstrebigkeit geht verloren. Das dritte Semester: ein Albtraum.“

Trotz des steigenden Bedarfs an Beratung ist eine Hilfe aufgrund der fehlenden Mittel nur eingeschränkt möglich

Heute geht es ihr besser, doch Fälle wie diese sind für die psychologischen Beratungsstellen keine Seltenheit. „Die Studenten schleppen sowohl ihre Uniprobleme als auch ihre persönlichen Lasten mit sich herum, das strengt an und zermürbt einen auf Dauer einfach“, weiß Rückert.

„Unsere Ressourcen sind knapp, psychologische Beratung ist an deutschen Unis nach wie vor kein Hauptanliegen.“

Leider könne er nur eine Unterstützungsfunktion bieten und Selbsthilfetipps geben. Im Ernstfall verweist er an niedergelassene Psychologen und Psychotherapeuten weiter.„Unsere Ressourcen sind knapp, psychologische Beratung ist an deutschen Unis nach wie vor kein Hauptanliegen.“ Ob sich daran in den nächsten Jahren etwas ändern wird, ist jedoch fraglich, wurde das Thema doch auch bisher nicht auf die Prioritätenliste gesetzt. Spätestens jedoch, wenn die ausgebrannten Studenten massenhaft an den Arbeitsmarkt strömen, wird die Erkenntnis kommen müssen, dass grenzenlose Leistungsbereitschaft gegenüber dem psychischen Wohl des Einzelnen den Kürzeren ziehen muss.

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