Treiben lassen, Fehler machen, Mama besuchen: Ratschläge an die frischgebackenen Abiturienten

In dieser Woche werden die Abiturzeugnisse überreicht. Anlass für Verwandte und entfernte Bekannte, tief in der Lebensweisheiten-Kiste zu kramen. Was ihr euch wirklich zu Herzen nehmen solltet, verraten unsere Jugendredakteure, die ihr Abitur seit ein paar Jahr in der Tasche haben.

 

In dem Moment, in dem ich mit meinem Abizeugnis die Schule verließ, begannen – nach damals noch 13 statt zwölf Jahren – die drei freiesten Monate meines Lebens. Oder besser: unseres Lebens. Denn egal, was wir, die wir eben noch gemeinsam die Bank gedrückt hatten, vorhatten: Ausbildungen begannen erst im September, der Semesterstart der Uni lag im Oktober und auch die meisten Auslandsprogramme starteten im Herbst. Wirklich vorbereiten konnte man sich auf nichts davon. Und keine Firma wollte eine Aushilfe, von der klar war, dass sie in spätestens zwölf Wochen etwas Besseres zu tun hatte. Das tolle war, dass es buchstäblich nichts zu tun gab, nichts, dass uns im Hinterkopf herumspukte. Nur ab und an war jemand verreist, um sich WGs an einem künftigen Ausbildungsort anzusehen. Wir schliefen aus, trafen uns nachmittags am See und feierten anschließend bis in die Nacht. Sicherlich hätte man die Zeit sinnvoller nutzen können. Aber so frei wie direkt nach dem Abi war man in der Schulzeit nicht, und bei allem, was dann kommt, ist man es erst recht nicht. Das klingt pessimistisch. Aber mit der Verkürzung der Schulzeit auf zwölf Jahre, haben die Abiturienten von heute ja quasi ein ganzes Jahr gewonnen. Auf die Gefahr hin, dass das dandyhaft klingt: Verführt das nicht dazu, die rund drei Monate des Nichtstuns auf 15 Monate zu verlängern? Zugegeben: mit der einen Einschränkung, dass man sich für diese Zeit vielleicht doch einen Gelegenheitsjob suchen kann.

Vivian Yurdakul, 27 Jahre

 

Rückblickend kann ich sagen, dass die Zeit nach der Schule sehr wichtig für mich war. Ich hatte nach der 10. Klasse die Schule gewechselt und saß die letzten drei Jahre mit Leuten in den Kursen, mit denen ich außerhalb des Unterrichts nicht viel zu tun hatte. Dementsprechend habe ich auch meine bestandenen Abiprüfungen kaum zelebriert. Aus einer postpubertären Abgrenzungslaune heraus habe ich Nulltagefeier, Abiball und die Abschlussfahrt boykottiert. In den Jahren zwischen Abschluss und dem richtigen Studium war ich im Ausland, habe viel Musik gemacht, schlimme Gastronomiejobs gehabt und obendrein Jura abgebrochen. All das war herrlich, schrecklich, lustig und mühsam zugleich, vor allem aber unverzichtbar für meine Persönlichkeitsbildung. Daher: Wenn du dir nicht hundertprozentig sicher über deine berufliche Zukunft bist, lass dich erst mal treiben.

Rebecca Schubert, 27 Jahre

 

Kaum etwas vermittelt so sehr das Gefühl von neu gewonnener Freiheit wie das Abitur. Plötzlich scheint man so unendlich viel mehr Möglichkeiten zu haben als zuvor. Und weil das Ereignis schon mal so schön symbolträchtig aufgeladen ist, wird es auch direkt zum perfekten Anlass erklärt, um von zu Hause auszuziehen. So wird nach dem Abitur nicht nur der Schulspind, sondern auch das Kinderzimmer ausgeräumt. Die Erwartungen an das erste eigene Reich sind groß. Endlich Selbstbestimmung, ruft das rebellische Jugendherz. Zunächst. Denn schnell stellt man fest, dass man – gewollt oder ungewollt – dasselbe Waschmittel wie Mama kauft, um den vertrauten Geruch in der Kleidung zu behalten. Auch die Tomatensoße mit Wiener Würstchen muss genauso schmecken wie früher – vor allem, wenn das Heimweh besonders groß wird. Aber auch diese Erfahrungen sind wichtig. Sie zeigen, dass das Zuhause nicht immer dort ist, wo der eigene Name im Mietvertrag steht.

Friederike Deichsler, 19 Jahre

 

Gerade das Abiturzeugnis in den Händen, schon wurde ich direkt in die Arbeitswelt geworfen. Die Umstellung von einem festen Unterrichtsplan auf 40 Stunden Arbeitszeit in der Woche habe ich mir nicht einfach vorgestellt, doch während meines Bundesfreiwilligendienstes im Theater habe ich eine wichtige Lektion gelernt: Wenn dir das, was du tust, Spaß macht, hast du unendlich viel Kraft um mehr als 40 Stunden zu arbeiten. Es liegt jedoch an dir, diese Kraft sinnvoll einzusetzen. Nach fünf langen Probentagen konnten meine Freunde am Wochenende nichts mehr mit mir anfangen.

Aniko Schusterius, 20 Jahre

 

Dies ist ein Plädoye für die Planlosen, für Backpacker und Streber! Tut und lasst bitte nach dem Abi, was ihr wollt. Kein Persönlichkeitstest und keine Studienberaterin dieser Welt kennen euch so gut wie ihr es tut. Daher kann auch niemand für euch entscheiden. Dabei ist es egal, ob ihr nun ein Jahr durch Bangladesh trampt, um euch selbst zu finden, oder direkt mit eurem Mykologie-Studium in Mönchengladbach beginnt. Lasst euch Raum für Fehler und falsche Entscheidung. Gebt euch selbst die Chance umzukehren, falls ihr den falschen Weg eingeschlagen habt. Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut wird, ist das auch nicht das Ende. Zumindest laut Oscar Wilde.

Ana Pecanic, 21 Jahre

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