Ab jetzt am Leben!

Lecker oder zum Gruseln? Foto: Peter Smola  / pixelio.de
Lecker oder zum Gruseln? Foto: Peter Smola / pixelio.de

Ich stehe am Fließband und kontrolliere die einzelnen Gewebe, die frisch aus dem 3D-Drucker kommen und durch die Komprimier-Anlage zu einem Stück zusammen gefügt werden. Auf dem heutigen Produktionsplan stehen Schnitzel und Kassler. Ein unschöner rosa Haufen wird von mir gleich entsorgt, da hat wohl wieder die Düse nachgetropft.

Mit einem kurzen Blick auf die vorbei fahrenden Stücke setze ich meine Schutzbrille auf und ziehe eine größere Maschine von der Decke. Mit leisem Summen starten die rund zweihundert feinen Laserstrahlen und bringen die Struktur auf die Oberfläche des Gewebes. Denn oberste Priorität bei „BigMeat LG“ ist „So natürlich wie möglich!“.

Da piepst der Metallstreifen an meinem Handgelenk. Das Zeichen für mich nun die bereits hergestellten Erzeugnisse am Ende der Produktionsstraße abzuholen. Ich fahre meine Räder aus und düse davon. Neben der Ausgabe bremse ich ab. Mit dumpfen Plops landen die fertigen Teile auf dem Gitter. Die noch feuchte Farbe läuft herunter und vermengt sich zu einem braun-gelben Gemisch. Ich sprühe noch etwas Glanzspray auf die Fleischstücke und beginne mit dem Eintüten. Der letzte Schliff macht sie erst zu dem, was sie darstellen sollen. Manchmal frage ich mich, ob die Menschen das Zeug auch noch essen würden, wenn sie wüssten, wo es herkommt. Wie ist das überhaupt, essen zu müssen? Wie lebt ein Mensch dort draußen? Tag für Tag bekomme ich nur meine Wohnbox zu Gesicht. Das graue Metall glänzt schon längst nicht mehr, viel mehr rostet es.

Plötzlich rutscht mir eine noch unverschlossene Tüte aus der Hand und fünf Schnitzel kullern davon. Eine laute Sirene ertönt und vier metallische Arme schießen aus der Luft auf mich zu. Ich werde gepackt und in die Höhe befördert. Wehren bringt nichts. Ich werde erst vor dem Büro des Kommandeurs wieder abgesetzt. Mein Metallstreifen blinkt nun gelb. Gelb für defekt.

Hinter der Milchglasscheibe der Bürotür erkenne ich den Kommandeur wild fuchtelnd mit dem Handy am Ohr: „Dann lassen Sie sich was einfallen. Wenn das so weiter geht, wird auch noch der letzte Posten dieser Firma – meiner – durch ein elektrisch denkendes Ding ersetzt.“

Mir wurde beigebracht, niemals mehr zu denken als nötig. „Vom Drucker zum Laser, vom Eintüten zum Liefern“, hat mein Lehrer immer gesagt. Aber was geschieht, wenn ich weiter denken würde? Nur einmal? Ein rostiges Quietschen weckt mich aus meinen Gedanken. Die Hintertür steht offen. Durch einen Windzug schwankt sie leicht hin und her. Ich rolle leise zu ihr herüber und was sehe ich? Alles ist hell. Mein Metall glänzt im Licht der Sonne. Sollte ich es wagen?

Der Kommandeur brüllt immer noch laut in sein Telefon. Ich streckte einen Arm aus, stoße die Tür weiter auf und brause davon. Ich halte erst an, als mein Motor zu röcheln beginnt. Mein Metallstreifen blinkt rot. Rot für Ausbruchgefahr.

Sirenengeheul lässt mich aufhorchen. Sie kommen näher. Und wie ein Gedankenblitz weiß ich, was ich zu tun habe: Auf und davon!

Ich bin SR-702. Seit 20 Jahren, fünf Monaten und drei Tagen Arbeiter bei BigMeat LG. Und ab jetzt am Leben!

 
Von Aniko Schusterius

 

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Kategorien Schule & Zukunft

90er-Kid, Bücherwurm, Weltenbummler. Ich liebe Musik und das geschriebene Wort. Letzteres kann man von mir seit 2012 hier lesen. Meine große Leidenschaft gilt dem Theater, das mich mehr als alles andere fasziniert. Wenn ich durch die Straßen Berlins laufe, kommt mir das Leben vor wie eine Aneinanderreihung vieler kleiner Inszenierungen, deren Geschichten alle festgehalten werden wollen. So inspiriert mich unsere Hauptstadt stetig zu neuen Themen für unsere Seite.