Ein Glücksfall für Deutschland

In Madrid demonstrieren Jugendliche gegen die hohe Arbeitslosigkeit. Foto: DPA
In Madrid demonstrieren Jugendliche gegen die hohe Arbeitslosigkeit.
Foto: DPA

In Südeuropa ist die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen dramatisch hoch. Nun sollen sie hierzulande freie Stellen besetzen. Spreewild traf zwei der Einwanderer, um deren persönliche Geschichte zu hören.

 

Von Anna-Lisa Menck, 23 Jahre

 

Der 29-jährige Juan ist ein „Glücksfall für Deutschland“. Als solchen bezeichnete Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) Anfang Mai die aktuelle Zuwanderung junger Südeuropäer, die aufgrund dramatisch hoher Jugendarbeitslosigkeit ihre Heimatländer verlassen. In Anbetracht ihrer oft sehr guten Qualifikation werden die Immigranten in Deutschland, wo derzeit rund 33 000 Ausbildungsplätze unbesetzt sind und Fachkräftemangel droht, „mit offenen Armen empfangen“, wie von der Leyen am 21. Mai in Juans Heimatstadt Madrid sagte. Anlass ihres Besuchs war die Unterzeichnung eines Abkommens zur Bekämpfung der spanischen Jugendarbeitslosigkeit: 5 000 junge Spanier sollen in den kommenden vier Jahren in Deutschland einen Ausbildungsplatz oder eine Anstellung erhalten.

Bereits 2009, als Juan nach Berlin kam, um hier sein Studium der Telekommunikations- und Informationstechnik abzuschließen, war die Situation auf dem spanischen Arbeitsmarkt problematisch. Deshalb plante er, zunächst in Deutschland ein wenig praktische Erfahrung zu sammeln – „ein halbes Jahr, höchstens ein Jahr“, erinnert er sich und grinst. So einfach wie erhofft gestaltete sich der Einstieg in den Beruf aber nicht: „Weil ich die Branche in Deutschland nicht kannte, wusste ich nicht, wo und vor allem wie ich mich bewerben sollte“. Nach einigen Absagen habe er dann beschlossen, erst einmal in Hostels zu jobben, um seine Sprachkenntnisse zu verbessern. „In Berlin kann man zwar wunderbar leben, ohne ein Wort Deutsch zu können, aber ich wollte die Sprache lernen. Das ist auch wichtig, um einen guten Job zu bekommen.“, sagt er in ausgezeichnetem Deutsch. Letztlich ist Juan geblieben. Er arbeitet mittlerweile als Telekommunikationsingenieur, wird gut bezahlt, hat freundliche Kollegen, eine deutsche Freundin und lebt in einer WG, in der er sich zu Hause fühlt.

Dennoch vermisst er seine alten Freunde und seine Familie sehr. Auch das Wetter macht ihm zu schaffen: Im vergangenen Winter nahm er spontan ein paar Tage Urlaub und floh nach Spanien. „Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten – diese ewige Dunkelheit und die eisige Kälte. Das war nichts für mich!“, sagt er lachend.

An eine Rückkehr in seine Heimat ist angesichts der dortigen Jugendarbeitslosigkeit von 56 Prozent, dem höchsten Wert innerhalb der EU nach Griechenland, in naher Zukunft aber nicht zu denken: Die meisten von Juans spanischen Freunden mussten wieder bei ihren Eltern einziehen. Ein WG-Zimmer, geschweige denn eine eigene Wohnung, können sie sich nicht leisten. „Einige suchen schon seit mehr als zwei Jahren nach einem Job. Andere arbeiten, verdienen jedoch nur 300 Euro im Monat“, erzählt er.

„Dass ich herkommen konnte, ist natürlich toll: Ich hatte keine bürokratischen Schwierigkeiten und fühle mich freundlich aufgenommen.“ Die aktuelle deutsche Zuwanderungspolitik sieht er trotzdem kritisch: „Manchmal frage ich mich, wie willkommen wir noch sein werden, wenn man uns hier nicht mehr braucht. Die heutige Haltung den Türken gegenüber, die in den 60er Jahren als Gastarbeiter kamen, gibt mir zu denken.“ Außerdem befürchtet er einen Teufelskreis für Spanien: „Wer bringt die dortige Wirtschaft wieder in Schwung, wenn all die qualifizierten Leute abwandern?“, fragt er und wirkt für einen kurzen Moment sehr ernst: „Wer soll einmal die Rente für meinen Vater zahlen?“ Dann wechselt er abrupt das Thema und das Lachen kehrt zurück in sein Gesicht.

 

Gabi, die wie Juan 29 ist und vor fünf Jahren aus dem italienischen Veneto nach Berlin kam, lacht nicht. Auch sie hat einen akademischen Hintergrund: Sie studierte Politikwissenschaften, brach jedoch vor dem Abschluss ab, als ihr klar wurde, dass sie mit diesem Studium nur sehr schwer einen Job in Italien finden würde. Deshalb entschied sie sich für eine Ausbildung zur Innenarchitektin – über ein Praktikum sollte im Anschluss der Berufseinstieg gelingen. Das Familienunternehmen, in dem sie es absolvierte, hätte die junge Frau gerne angestellt: „Sie waren zufrieden mit meiner Arbeit und sie brauchten jemanden“, erzählt Gabi auf Englisch – ihr Deutsch sei noch nicht so gut. „Aber sie konnten mich nicht übernehmen. Mit drei Generationen haben sie dort jeden Tag von morgens um sieben bis abends um neun geschuftet. Und trotzdem wussten sie am Ende des Monats nicht, wie sie ihre Rechnungen bezahlen sollten. Daher konnten sie es sich unmöglich leisten, eine junge Frau zu beschäftigen. Denn wäre ich schwanger geworden, wären sie verpflichtet gewesen, mich weiterhin zu bezahlen.“ Gabi schloss ihre Ausbildung gemeinsam mit 21 weiteren Azubis erfolgreich ab, 20 Frauen und zwei Männer waren in ihrem Jahrgang. „Zwei meiner Kollegen haben einen Job als Innenarchitekten gefunden. Es ist nicht schwer zu erraten, wer…“, sagt sie trocken. Mittlerweile liegt die Jugendarbeitslosigkeit in Italien bei rund 40 Prozent.

Alle weiteren Bewerbungsversuche von Gabis Bewerbungsversuchen blieben erfolglos. Eine Zeitlang hielt sie sich mit Kellnern über Wasser. Obwohl sie in einem winzigen Zimmer einer schmutzigen WG mit mehr Bewohnern als Räumen lebte, musste sie stets fürchten, die Miete im kommenden Monat nicht mehr zahlen zu können: „Die Mieten in Italien sind ins Unermessliche gestiegen und die meisten Löhne gleichzeitig weit unter den Betrag gesunken, den man zum Leben braucht“, berichtet sie.

Als eine Bekannte, die nach Berlin ausgewandert war, ihr erzählte, dass sie dort als Kellnerin ein Vielfaches verdiene, entschied auch Gabi sich, nach Deutschland zu kommen. Ein erster Job war schnell gefunden: Sie fing in einem italienischen Restaurant an. „Die Arbeitsbedingungen waren wesentlich besser und die Bezahlung war es auch“, erzählt sie, zögert einen Augenblick und fügt hinzu: „Aber das war alles schwarz.“ Während ihr viele solcher illegaler Jobs angeboten wurden, die keinerlei Vertrags- und Versicherungsschutz bieten, habe sie nach einer offiziellen Anstellung lange suchen müssen.

Bei einem in englischer Sprache arbeitenden Callcenter wurde sie schließlich fündig. „Die Arbeit war furchtbar, die Bezahlung ganz gut – wenn man sein Geld denn bekam“, erinnert sich Gabi. „Für das Gehalt, das uns Angestellten zustand, mussten wir dort immer kämpfen. Unter mysteriösen Umständen verschwanden auf jeder Abrechnung zum Teil beträchtliche Summen.“ Die Frage, ob sie glaube, das habe damit zu tun, dass sie kein Deutsch spreche und so Schwierigkeiten gehabt hätte, rechtliche Schritte einzuleiten, bejaht sie energisch: „Definitiv! Dort wurde auf jeden Fall ausgenutzt, dass wir als Ausländer nicht alles verstanden und keine Ahnung von der Rechtslage hatten. Die wussten, dass wir uns nur schlecht wehren konnten. Oft musste ich mich bei Freunden informieren, die sich besser auskannten.“

Auch auf dem Arbeitsamt hat sie schlechte Erfahrungen gemacht. Anders als Juan, der als Diplomingenieur und mit sehr guten Deutschkenntnissen kaum bürokratische Hürden zu meistern hatte, war Gabi mit den Formalia überfordert und fühlte sich mit ihren Schwierigkeiten allein gelassen: „Alle Zuwanderer, die ich kenne, haben sich ungeheuer große Mühe gegeben, alles richtig zu machen. Aber das ist absolut unmöglich, wenn man kein Deutsch spricht. Alle Formulare liegen bloß in der Amtsprache vor – Übersetzungen gibt es nicht“, berichtet sie. Eine ihrer italienischen Freundinnen sei von ihrer Sachbearbeiterin Woche für Woche abgewiesen worden, ohne dass diese ihre Fragen beantwortet habe. „Erst nach zwei Monaten hat sich eine türkische Mitarbeiterin erbarmt und sie zu einem Termin eingeladen, um ihr zu erklären, wie sie die Papiere korrekt ausfüllt“. Ohne die Unterstützung deutscher Bekannter wäre sie selbst verloren gewesen, sagt Gabi. Was ihr außerdem weitergeholfen habe, sei die kostenlose Beratung, die zum Beispiel die Arbeiterwohlfahrt anbiete. Auch wenn dort jeder Berater etwas anderes gesagt habe, findet sie dieses Angebot toll. „In Italien gibt es so etwas nicht“, erzählt sie.

Den Job im Callcenter hat Gabi gekündigt. Nun arbeitet sie für ein Online-Reiseportal, das ebenfalls vor allem junge Zuwanderer anstellt. Auch hier, warnten sie Kollegen, müsse man aufpassen, seine Gehaltsabrechnung und die Kontoauszüge gründlich kontrollieren und sich dafür einsetzen, den vertraglich festgelegten Nacht- und Feiertagszuschlag tatsächlich zu erhalten. Trotzdem sei sie zufrieden: „Ich habe einen Job, der ganz okay ist und ich kann meine Miete zahlen. Glücklich schätze ich mich sowieso: Von all meinen italienischen Freunden haben nur die eine Arbeit, von der sie leben können, die ausgewandert sind.“ Das gelte auch für ihre früheren Mitstudierenden, die teilweise zwei Abschlüsse gemacht haben – in der Hoffnung, durch die zusätzliche Qualifikation den Berufseinstieg zu schaffen. „Die Arbeitsmarktsituation hat sich immer weiter zugespitzt: Du suchst einen grauenhaften Job in Italien, unterbezahlt und mit katastrophalen Arbeitsbedingungen? Schwierig genug. Du willst eine vernünftige Arbeit verrichten? Fast unmöglich! Du wünscht dir einen guten Job? Denk nicht einmal daran!“ Die Verzweiflung und die Wut, mit der sie das äußert, sind mit Händen greifbar.

Obwohl sie Berlin liebe, fühle sie sich noch immer fremd in Deutschland. „Meine Heimat, meine Familie, meine Freunde und auch meine Muttersprache fehlen mir sehr“, gesteht sie. „Aber zurückgehen kann ich nicht. Statt mir Illusionen zu machen, besuche ich nun nach Feierabend einen Deutschkurs.“

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