Jugendreporter Bill macht ein Praktikum in einer Psychiatrie und fragt sich, was eigentlich normal ist
Von Bill Schneider, 17 Jahre
Schwester Katja (Name geändert) ist eine kräftig gebaute Frau, die schon seit fast zwei Jahrzehnten auf der Station arbeitet. Alle Sätze, die sie über ihre Patienten dahinberlinert, verstärken ihre resolute Ausstrahlung. Sie zeigt mir die Räume, in denen sich Pfleger und Ärzte aufhalten. Dort steht eine Waschtrommel, die gerade ein piependes Signal von sich gibt. Wir öffnen das Gerät und holen lange, grün-weiße Gurte aus dickem Stoff heraus. Nach lieblichem Waschpulver riechen die. Wenn ein Patient für sich oder andere zu gefährlich wird, wird er mit diesen Riemen ans Bett fixiert. Ich bin einen Moment lang baff. Es ist der erste Tag meines Praktikums in einer Berliner Psychiatrie.
Meine Freunde hatten eine Menge Vorurteile: In einer Psychiatrie würden nur Irre rumlaufen oder an Betten gefesselt sein, zugedröhnt von Medikamenten. Warum wolle ich hier meine Ferien verbringen, fragten sie. Ich hatte andere Fragen: Männer können heute Männer heiraten, niemand regt sich mehr über hautenge Kleidungsstücke auf, jeder kann den ganzen Tag vorm Computer hocken, wenn er will. Unsere Gesellschaft hat sich so vielen Lebens- und Verhaltensweisen geöffnet. Und doch gibt es noch Menschen, die nicht ins Raster passen und deshalb in psychiatrischen Krankenhäusern behandelt werden. Wer entscheidet eigentlich, was normal ist?
Der Patient Herr K. baut sich vor mir auf. Er ist fast zwei Meter groß und sagt mir mit quiekender Stimme, ich solle ihm doch jetzt bitte die Tür der Station aufschließen. Er brauche frische Luft. Doch ich muss die Tür der geschlossenen Abteilung verriegelt lassen. In meinen ersten Tagen auf der Station 12 erfahre ich, wie anstrengend und vor allem fordernd, aber auch spannend und vielschichtig die Patienten sein können.
Herr K. leidet an einer speziellen Form der Schizophrenie, bei der erwachsene Patienten in ein kindlich-pubertäres Verhalten zurückfallen. Es wirkt tragisch und komisch zugleich, wie er mit seinen 30 Jahren trotzig durch die Station trampelt, als wäre gerade bei seinem fünften Kindergeburtstag etwas schiefgegangen. Herrn K. müssen wir zum Essen bitten, er muss daran erinnert werden, seine Medikamente zu nehmen, und man muss gute Überzeugungsarbeit leisten, um ihn zur Teilnahme an den Therapien zu motivieren. Kindereien dieser Art gehen mir bei meinem kleinen Neffen gewaltig auf die Nerven. Aber mit dem Bewusstsein, dass dieser Mensch an einer Krankheit leidet und unter meiner Obhut ist, um wieder zu genesen und an der Gesellschaft teilhaben zu können, bin ich leidenschaftlich bei der Sache und freue mich, morgens um halb sechs aufzustehen, damit ich Herrn K. an seine Medikamente erinnern kann.