Auf Boliviens Straßen lernen

Mareike mit Straßenkindern in der bolivianischen Hauptstadt Sucre. Foto: Privat

Seit fünf Monaten arbeitet Mareike mit Straßenkindern in Bolivien. Manches musste sie dabei überdenken


Von Mareike Dottschadis , 20 Jahre


SUCRE. „Mesa“ – Tisch, sage ich auf Spanisch und nehme Luis’ Hände zwischen meine. Wir klatschen gemeinsam, für jede Silbe einmal. Der 11-Jährige sitzt auf seinem Schuhputzkästchen vor der Mobilen Schule und sucht ein Wort mit derselben Endsilbe auf der Tafel. Schon seit vier Jahren arbeitet Luis als Schuhputzer, auch jetzt müsste er eigentlich Geld verdienen, seine Familie finanziell unterstützen. Aber heute darf er ein paar Stunden einfach der 11-Jährige sein, der gerne spielt. Denn heute steht die Mobile Schule auf dem Hauptplatz der bolivianischen Hauptstadt Sucre.


Kinder als Familienernährer


Am ehesten könnte man die Mobile Schule als „ausziehbare Tafel auf Rädern“ umschreiben, die wir auf dem Anhänger unseres Kleinbusses jeden Tag an einen anderen Ort in Sucre transportieren. Für unsere Kinder aber ist sie ein Zauberkasten, der von Schulaufgaben über Spiele bis hin zu Theater und Musik alles bietet. In Belgien erfunden, gibt es Mobile Schulen inzwischen überall in der Welt, wo Kinder auf der Straße leben und arbeiten. Sie alle als „Straßenkinder“ zusammenzufassen, wäre zu einfach. Denn die Situation der „Straßenkinder“ in Sucre ist eine völlig andere als zum Beispiel die der Kinder in Russland oder Südafrika.


Trotzdem können sie alle an den Tafeln der Mobilen Schule lesen, schreiben und rechnen lernen, sich ausprobieren und am wichtigsten: spielen. Wirklich Kind sein. Die Verantwortung abgeben, schon als 8- oder 9-Jährige mit für ihre Familien und sich selbst sorgen zu müssen. Mit der Mobilen Schule wollen wir ihnen helfen, das Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl zu entwickeln, das viele von ihnen nicht in ihrer Familie aufbauen können.


„Oye!“ – Hör mal, sagt Luis und stupst mich an. Er zeigt mir ein Wort auf der Tafel und klatscht zweimal in die Hände: „Fre-sa“ – Erdbeere. Ich lächle und lobe ihn. Dass Luis lernt, Silben zu erkennen, ist nicht das Wichtigste. Wichtig ist vor allem, dass ich für ihn da bin. Seit fünf Monaten arbeite ich nun als Freiwillige hier in Bolivien mit der Mobilen Schule. Diese Zeit habe ich auch gebraucht, um zu verstehen, dass man Jungen wie Luis nicht einfach von der Straße holen kann. Denn dort haben sie ihre Freunde und Arbeit, auf die sie auch stolz sind. Viele von ihnen wollen ihr Leben auf der Straße nicht aufgeben. Mit unserer Arbeit möchten wir ihnen andere Perspektiven aufzeigen. Aber ob sie diese Chancen ergreifen, muss letztlich ihre Entscheidung sein, sonst fliehen viele in ihr altes Leben zurück.


Zum Arbeiten in die Stadt gezogen


Als ich in Luis’ Alter war, ging ich sechs Stunden am Tag zur Schule, nachmittags in den Sportverein und musste mir keine Sorgen machen, ob meine Familie genügend Geld zum Leben hatte. Luis geht halb so lange zur Schule, danach arbeitet er bis in die Nacht. Als ich ihn das erste Mal traf, urteilte ich wie die meisten, die noch nie mit „Straßenkindern“ gearbeitet haben. Ich hielt ihn für arm. Luis hat mir gezeigt, dass er in mancher Hinsicht reicher ist als jeder 11-Jährige, den ich kenne: an Verantwortungsbewusstsein und Selbstständigkeit. Wie viele Kinder ist er ohne Familie vom Land gekommen, um zu arbeiten, wohnt in einem kleinen Zimmer mit anderen Kindern und kümmert sich um seinen kleinen Bruder, der auch arbeitet.


An der Mobilen Schule unterrichtet jeder jeden: Ich zeige Luis, was sich zu lernen, zu entdecken lohnt. Mich lehrt Luis Respekt und Aufmerksamkeit – und nicht so rasch in meinem Urteil zu sein.

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Kategorien Politik

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