Post ist da: Eine Karte von Friedrich Nietzsche



Friedrich Nietzsche sendet Urlaubsgrüße aus Turin.



Erlauchte Jugendredaktion,


es ist ein Vorurteil, dass ich ein Mensch bin. Ich bin der Gekreuzigte. Ich bin Dionysos. Unerbittlich befinde ich mich im Kampf gegen … gegen alles und werte weiter die euch heiligen Werte um. Eure allzu menschliche Moral zer- und verstoße ich. Verzeiht, wenn ich mich zu vehement an euch wende, ihr seid ja noch so jung.


Zurzeit kuriere ich mich in Turin von einem Zusammenbruch, der wahrscheinlich durch Syphilis ausgelöst wurde. Jeden Tag versende ich Briefe, in denen ich die Krönungen des Denkens offenbare. Wahnzettel werden sie genannt, als Schriften eines Irren gebrandmarkt. Tss!


Tut es nicht als Dekadenz ab, wenn ich euch das große Fest des Daseins verkünde. Ihr sollt Dichter eures Lebens, zum Sinn der Kultur, zum Übermenschen in der ewigen Wiederkunft der Ereignisse werden, damit ihr nicht zu den Bestien des Banalen stürzt. Erhebt und überwindet euch. Erschafft Neues aus verbrannter Erde.


Vergesst niemals, dass Gott tot ist, doch unsere Irrtümer ihn immer neu erschaffen können. Die größte Kunst des Menschen ist, sich selbst zu täuschen und zu verzaubern. Nun seid frei von Ressentiment, und tanzt zu den Dionysien, die ich für euch veranstalte.


Euer Friedrich.


Auf diese letzte unserer Postkarten stieß Jugendreporter Maximilian Hennig, 19 Jahre, auf einem Klapptisch vor der Psychiatrischen Universitätsklinik Jena, die sich mit einem Bücherverkauf etwas  Geld für neue Forschungsprojekte dazuverdienen wollte. Zwischen vergilbten Seiten steckte die Karte in einer Erstausgabe von Nietzsches philosophischem Hauptwerk „Also sprach Zarathustra“. Unser zu dieser Zeit geistig schon stark umnachteter Freund muss sie nach seiner Turin-Reise und einem kurzen Aufenthalt in einer Nervenklinik in Basel ganz vergessen haben. Und so verließ Nietzsche die Klinik bereits 1890, um zu seiner Mutter zu ziehen, während die Postkarte noch 121 Jahre länger auf Station bleiben musste.

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Kategorien Politik

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