Alice Junior
Die transidente Teenagerin, verkörpert von Bloggerin Anne Celestino Mota (links), muss gegen Prüderie und Engstirnigkeit kämpfen.

Junger Schmerz in 5, 4, 3, 2, 1… : Berlinale hat starke Jugendfilme im Programm

Wild, entschlossen, traumatisch: Die Berlinale zeigt in der Sektion „Generation 14plus“ dieses Jahr viel Emotion. Von Umweltkatastrophen bis Todesstrafen ist alles dabei. Wir stellen euch die besten Filme vor.

Von Salonika Hutidi & Lisa-Marie Henle

Berlin ist wieder im Berlinale-Fieber. Noch bis Sonntag werden auf den Internationalen Filmfestspielen Berlin alternative Filme aus aller Welt präsentiert. Mit der Sektion „Generation 14plus“ richtet man sich an ein junges Publikum. Die hier gezeigten Filme behandeln den Sprung zum Erwachsensein und zeichnen Porträts Heranwachsender, die unterschiedlicher kaum sein könnten.

Dabei geht der Jugendfrust der Protagonist*innen weit über Herzschmerz, Regelblutung und Sex hinaus. Der Zuschauer wird mit Vergewaltigung, Mord und Krieg konfrontiert, wird Zeuge traumatischer Verluste, ernüchternder Begegnungen und wilder Entschlossenheit.

Wir verraten euch, welche Filme besonders bewegen. Jeden Tag stellen wir euch an dieser Stelle neue Werke vor.

Alice Júnior

„Also Leute, ihr kennt mich als Alice Júnior. Ich bin trans, schwer zu schlagen und bereit für alles, was es zu sein gilt.“

Die Welt von Alice steht Kopf. Gerade noch war sie Model und Vloggerin in der brasilianischen Großstadt Recife als plötzlich ihr Vater Jean Genet die Eingebung bekommt, ein Parfüm aus einem speziellen Tannenzapfen zu kreieren und deshalb mit Alice in den Süden des Landes zieht.

Dort angekommen wird klar, dass Alices Trans-Identität hier unerwünscht ist. Ihr buntes Tütü-Röckchen ersetzt die Schuldirektorin schnell durch eine Schuluniform – für Jungs. Die konservativ katholische Einrichtung hält nichts von ihren Gefühlen. Sie darf nicht einmal auf die Mädchentoilette.

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Doch je länger Alice an der Schule ist, desto ansteckender ist ihre einzigartige Art. Sie gewinnt zunehmend die Unterstützung der Schülerschaft, befreundet sich mit einigen Schülerinnen und einem Lehrer.

Der Film ist bunt, schnelllebig und voller Emojis. Pop-Musik und springende Bildschnitte verleihen ihm Elan und den Flair einer Teenagerkomödie. Die Szene, in der Alice mit ihrem Vater in die Kleinstadt fährt, erinnert sogar an den französischen Teeni-Film „LOL – Laughing out Loud“.

Alices Vater unterstützt sie bedingungslos und ist damit für Regisseur Gil Baroni ein Vorbild für alle Eltern von transidenten Kindern. „Der Vater hinterfragt an keinem Punkt die Sexualität seiner Tochter“, erklärt Baroni in einem Interview mit den Teddy Awards. Er verhält sich liebevoll, verteidigt Alices extrovertiertes Gemüt und respektiert die Grenzen seiner Tochter.

„[Der Film demonstriert], wie man aus Paradigmen ausbricht und etwas Neues daraus macht“, so der Regisseur. „Alice Junior“ erzählt von einem Einhorn, das das Spektrum seiner Talente beweist. Und darüber, dass ein einziges Mädchen mehr Farben in die konservative Tristes bringen kann. Wie Alice sagt: „Es ist nicht wichtig, was ihr seid, sondern wer. Schließlich müssen wir uns immer wieder transformieren.“

Fazit: Sehr bunt und lustig – ein Film für Optimisten.

Diesen Film könnt ihr noch sehen am …
27.2., 20:30 Uhr, Urania
28.2., 13:30 Uhr, CinemaxX 3
2.2., 19 Uhr Cubix 8
1.3., 17 Uhr, Urania

The Earth is Blue as an orange

Patrouillierende Soldaten, nächtliche Kanonenschüsse und ab und an wird das Nachbarhaus von einer Bombe getroffen. Familie Trofymchuk lebt im tiefsten Kriegsgebiet im Donbass, Ukraine. Trotzdem bewahrt sie ihre Träume.

Familie Trofymchuk lebt in der „roten Zone“ in Donbass, einem der gefährlichsten Gebiete im Ukraine-Konflikt, der seit 2014 tobt. Während die Stadt mit einer Schicht von Schwarzpulver und Asche überzogen wird, versuchen sich Ganna und ihre beiden Töchter sowie Söhne ein Stückchen Glück zu bewahren.

Gannas Tochter Myroslava träumt von einer Karriere als Regisseurin und bewirbt sich an einer Filmuniversität. Jedes Familienmitglied spielt ein anderes Instrument und ihre Katzen wärmen ihnen den Schoss. Bald entschließen sie sich einen eigenen Film zu drehen – über sich, über den Krieg, über das kleine Krasnohorivka. Myroslava filmt und plant, Ganna bespricht mit ihr das Drehbuch. Die Geschwister übernehmen die Hauptrollen. Sie träumen mit Myroslava ihren Traum.

Das Kino bewegt die Familie und hilft ihr eigene Traumata zu verarbeiten. Das Leben treibt sie an, trotz Krieg.

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Als Regisseurin Irina Tsilyk durch ein Jugend-Filmcamp auf die Trofymchuks trifft, ist sie ganz begeistert. Ein Jahr lang leben sie und ihr Team bei ihnen in Donbass. Sie wurden Teil der Familie, was sich auf den Aufnahmen widerspiegelt.
Kein nervöses Lachen, keine Blicke in die Linse – es ist, als sei die Kamera gar nicht da. Bei gedämpftem Licht entgleiten den Familienmitgliedern ihre Emotionen und die Kamera fängt Schmerz und Freude in ihren Augen ein.

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Der gefährliche Drehort verschreckte die Regisseurin dabei nicht. Sie kennt die Gegend gut und war durch ihre vorherigen Projekte an den Klang des Krieges gewohnt. „Aber wissen Sie, Sicherheit ist dort eine Frage des Glücks“, erklärt Tsilyk dem Onlineportal Cineuropa. Für diese mühevolle Arbeit gewann sie auf dem diesjährigen Sundance Film Festival sogar den Regiepreis für Dokumentationen.

Der selbstgedrehte Film der Trofymchuks wird derzeit übrigens überarbeitet. Tsilyk hofft sehr, dass die Familie damit bei einigen Kurzfilm Festivals teilnehmen möchte.

Fazit: Eine brillante Dokumentation. Nah, präzise, emotional, vielversprechend.

Diesen Film könnt ihr noch sehen am …
28.2., 17 Uhr, CinemaxX1
1.3., 17 Uhr, Cubix 8

Meu Nome é Bagdá / My Name is Baghdad

Baghdad ist jung, dynamisch, belebt. Auf der Halfpipe trotzt sie Schwerkraft und Machismo. Zusammen mit ihren Freundinnen bricht sie aus jeder Box, in die sie gesteckt wird – denn auch Mädchen können gut skaten.

Kurze Haare, weite Hosen und stets ihr Skateboard unterm Arm – so sieht Baghdads Leben aus. Das junge Mädchen ist cooler als jedes Katalogmodel. Am liebsten streift sie mit ihren Skater-Jungs durch die Straßen Sao Paolos in Brasilien oder versucht einen Boneless in einem durchlöcherten Skatepark. Zuhause wird sie von einem emanzipierten Frauenhaushalt empfangen. Als sie schließlich auf andere Skater-Mädchen trifft, verändert sich ihr Leben.

In ihrer Gesellschaft ist anderssein nichts Gutes. Frausein auch nicht. Baghdads ‚unweibliches’ Aussehen kommt bei Polizeikontrollen nicht gut an. „Wenn du meine Tochter wärst, würde ich dich ins Gesicht schlagen“, brüllt ein Polizist ihr ins Ohr, bevor er ihr wie den anderen Jungs zwischen die Beine greift.

„[Wenn du ein Mädchen bist gibt dir die] Gesellschaft vor wie du dich bewegen sollst, wie du dich anziehen sollst…“, erklärt Regisseurin Caru Alves de Souza in einem Interview mit den Teddy Awards. Baghdad nimmt diese Erwartungen der Gesellschaft und schafft daraus etwas anderes, eigenes. Sie zeigt, dass die Welt nicht nur aus geballten Fäusten und grimmigen Mienen besteht, sondern auch schöne Seiten hat.

Die Dynamik zwischen den Jugendlichen ist authentisch und echt – denn die Skateboardgruppe kennt sich im echten Leben seit vielen Jahren. Wenn die Gesichter zum Greifen nahe sind und die Kamera wackelt, ergreift die Szene das Publikum und zieht sie mit ins Geschehen.

Mit dem Film entwickelt sich auch Baghdad. Anfangs erträgt sie die sexistischen Bemerkungen ihrer männlichen Freunde – was sollte sie auch machen, wenn ihr Protest von den Jungs belächelt wird. Doch die anderen Skater-Mädchen unterstützen sie solidarisch und geben ihr die Courage für ihre Überzeugungen einzustehen. Sie haben es satt auf der Halfpipe beschmunzelt zu werden, deshalb setzen sie dieser Machismo-Struktur ein Ende.

Sexismus, Gewalt und Missbrauch durch die Gesellschaft wird authentisch, liebevoll und humoristisch verarbeitet. Schließlich tanzt Baghdad ihre Sorgen weg. Statt Tränen kann man Solidarität und Lebensfreude erwarten. Das ist von der Regisseurin beabsichtigt: „Wenn Frauen auf der Leinwand gezeigt werden, werden sie immer leidend abgebildet“, erzählt Cara Alves. Sie wollte einen Film schaffen, der Frauen glücklich und stark zeigt – und das ist ihr gelungen.

Diesen Film könnt ihr noch sehen am …
27.2., 20 Uhr Bubis 8
29.2., 15:30 Uhr, Zoo Palast 1

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Welche Filme ihr außerdem nicht verpassen solltet, lest ihr auf Seite 2.

Kategorien Film & Fernsehen Instagram Kultur Medien

Immer auf dem Sprung zu neuen Themengebieten möchte ich die Gegebenheiten der Welt aufdecken. Was ich da machen kann? Schreiben! Schreiben, über den Sinn des Lebens. Schreiben, über UN-Konventionen und Kinderschokolade. Schreiben, über die täglichen Erfahrungen eines ehemaligen Mitgliedes von Scientology. Mit großer Leidenschaft zur Recherche versuche ich die Welt besser zu verstehen und möchte alle Leser daran teilhaben lassen. Spreewild nutze ich dabei gerne um Themen anzusprechen, die im gesellschaftlichen Salon absichtlich vergessen bleiben. Das Unausgesprochene aussprechen. Die Tatsachen auf den Tisch packen. Das ist für mich Journalismus.