Tausende Flüchtlinge leben in den Lagern von Kobane und Singal Zelt an Zelt. „Life on the Border“ bringt die Schicksale unter den Planen auf die Leinwand. Foto: Berlinale

Schonungslose Ehrlichkeit trifft surreale Traumwelt

Tausende Flüchtlinge leben in den Lagern von Kobane und Singal Zelt an Zelt. „Life on the Border“ bringt die Schicksale unter den Planen auf die Leinwand. Foto: Berlinale

Die Berlinale-Sektion „Generation“ zeigt seit Donnerstag ein vielfältiges Programm an Filmen für Jugendliche

Sie erheben ihre Stimmen, die niemand hören will, entdecken sich selbst in den Wirren einer Welt, in die sie gerade hinein- und über die sie hinauswachsen. Die jungen Protagonisten der 63 Filme, die die Berlinale gerade in den Wettbewerben „Kplus“ und „14plus“ präsentiert, sind keine 08/15-Charaktere. Um ihre Geschichten zu erzählen, haben Filmemacher aus aller Welt teils kuriose Formen gefunden: Kinderchorklänge brechen die Dramatik eines brennenden Hauses, die Perspektive einer „versteckten Kamera“ fängt ein Krisengespräch im Klassenzimmer ein.

Maryanne Redpath ist seit mehr als zwanzig Jahren im Rahmen der Berlinale auf der Suche nach guten Filmen für Kinder und Jugendliche. Foto: Berlinale
Maryanne Redpath ist seit mehr als zwanzig Jahren im Rahmen der Berlinale auf der Suche nach guten Filmen für Kinder und Jugendliche. Foto: Berlinale

Zu den filmtechnischen Experimenten zählt definitiv auch der russische Film „Triapichniy Soyuz“ („Rag Union“). Der schüchterne Vania ist ein typischer Außenseiter, diniert lieber im Geiste mit seinen verstorbenen Idolen, als mit realen Freunden abzuhängen. Durch Zufall gerät er in ein Grüppchen selbst ernannter Revolutionäre, die ihn mit ihrer Dynamik und ihren irren Ideen mitreißen und fortan sein Leben auf den Kopf stellen. In einem Haus mitten in der Pampa leben sie wie in einem utopischen Paralleluniversum und planen, die Welt zu verändern. Wie genau das gehen soll, bleibt ungewiss. Denn die vier jungen Männer strotzen zwar vor Enthusiasmus, es fehlt ihnen jedoch an Struktur. Der Film steckt voller Brüche, löst Konfliktsituationen unerwartet surreal auf. Nicht erst im Abspann fragt man sich, was da gerade auf der Leinwand passiert ist.

Surreal erscheinen auch die Leben der acht Kinder, die im Film „Life on the Border“ einen Einblick in syrische und irakische Flüchtlingscamps geben. Die Explosionen im Hintergrund könnten die Sound­effekte eines Blockbusters sein. Doch diese Geschichten sind alle wahr. Die Sonderproduktion entstand mit der Hilfe kurdischer Filmemacher, die geflüchtete Kinder und Jugendliche bei der Anfertigung kurzer Filme über ihr Schicksal unterstützten. Basmeh hat Schwierigkeiten, das Stativ ihrer Kamera aufzustellen, mit einem Arm. Den anderen hat sie durch eine Landmine verloren – und ihre Schwester an den IS. Nicht verloren hat sie aber ihren Mut. Und ihre feste Stimme, mit der sie über all das Leid ihrer Flucht in die Kamera spricht, fast nüchtern. Es ist nicht leicht, bei diesem Film die Tränen zu unterdrücken. Und doch will man nicht schwach sein, wenn man diesen unglaublich starken jungen Menschen zuhört.

Es ist ein anspruchsvolles, internationales Programm, das dem jungen Publikum auf der Berlinale geboten wird. „Wir bekommen oft von Erwachsenen zu hören: ,Das kann man Kindern doch nicht zumuten‘“, sagt Sektionsleiterin Maryanne Redpath. „Aber Kinder können mehr aushalten, als viele glauben. Manchmal verstehen sie die Filme besser als ihre Eltern.“

Das vollständige Interview mit Maryanne Redpath lest ihr hier.

Das könnte Dich auch interessieren

Kategorien Film & Fernsehen Medien

Schreiben ist meine Neurose. Ich mache das wirklich nicht freiwillig. An pathologischer Schreibwut leide ich etwa seit meinem neunten Lebensjahr. Heute bin ich 24. Sie äußert sich in der übermäßigen Produktion von Texten, dabei reagiere ich sensibel auf gute Geschichten. Schreiben ist mein Plüsch–Airbag gegen Schleudertraumata im täglichen Gedankenkarussell, Weckglas für klebrig-süße Memoirenmarmelade und die doppelte Aspirin am Morgen nach einem exzessiven Empfindungsrausch. Ich habe eine Schwäche für Präpositionen mit Genitiv, Schachtelsätze und Ironie. In die Redaktion komme ich nur, weil es da umsonst Tee gibt.