Maryanne Redpath ist seit mehr als zwanzig Jahren im Rahmen der Berlinale auf der Suche nach guten Filmen für Kinder und Jugendliche. Foto: Berlinale

„Ich verstehe nicht, warum Jugendliche als marginalisiertes Publikum gesehen werden“

Maryanne Redpath ist seit mehr als zwanzig Jahren im Rahmen der Berlinale auf der Suche nach guten Filmen für Kinder und Jugendliche. Foto: Berlinale

Interview mit Maryanne Redpath, Leiterin der Berlinale-Sektion „Generation“

Ab heute weht mit dem Start der 66. Berlinale am Potsdamer Platz und in den Berliner Kinos ein frischer Filmwind. Maryanne Redpath ist Leiterin der Sektion „Generation“, deren Wettbewerbsprogramm sich vor allem an Kinder und Jugendliche richtet. Wir haben mit ihr über die Ansprüche des jungen Publikums, mutige Filmemacher und den leidigen Stempel „Kinderfilm“ gesprochen.

Tausende Flüchtlinge leben in den Lagern von Kobane und Singal Zelt an Zelt. „Life on the Border“ bringt die Schicksale unter den Planen auf die Leinwand. Foto: Berlinale
Tausende Flüchtlinge leben in den Lagern von Kobane und Singal Zelt an Zelt. „Life on the Border“ bringt die Schicksale unter den Planen auf die Leinwand. Foto: Berlinale

Kinder- und Jugendfilm – was bedeutet das überhaupt?
Die Filmbranche tendiert stark zum „Labeling“, zur Genre-Benennung von Filmen. Wir setzen uns im Rahmen des Festivals mit dieser Benennung auseinander: Was ist das, ein „Kinderfilm“? Grob gesagt: Ein Film, der sich gut benimmt, so wie Kinder sich benehmen sollen. Er hat ein Anfang, eine Mitte und ein Happy End. Aber unser Programm geht weit darüber hinaus. Viele der Filme, die wir auswählen, sind gar nicht für ein junges Publikum gemacht. Manchmal sagen die Filmemacher: Ich habe doch gar keinen Kinderfilm gemacht!

Inwiefern ist „Generation“ ein Vorreitermodell?
Die Berlinale ist weltweit das einzige wichtige Festival mit dem sogenannten „A-Listen“-Status, das auch eine Sektion für Jugendliche und Kinder hat. Das ist eine große Sache. Die Sektion gibt es schon seit 39 Jahren, wir sind sehr etabliert im Rahmen des Festivals. Unsere Altersempfehlungen sind außerdem nach oben offen. Es kommen daher auch alte Menschen oder Erwachsene ohne ihre Kinder und es entsteht ein Mix der Generationen, das ist das Besondere dabei.

Werden Filme, die sich an Kinder und Jugendliche richten, in der Branche oft unterschätzt?
Sie werden manchmal unterschätzt, wie auch junge Menschen unterschätzt werden. Wir bekommen zum Beispiel zu hören: Das ist doch kein Kinderfilm, das kann man Kindern nicht zumuten. Aber Kinder können mehr aushalten, als viele glauben. Manchmal besser als ihre Eltern. Ich habe da eine Situation vor Augen: Eine Mutter kommt aus dem Kino und hat ein Kind dabei, vielleicht sieben, acht Jahre alt. Und die Mutter ist aufgelöst in Tränen. Das Kind aber sagt: „Es ist okay. Komm Mama, wir gehen nach Hause. Ich verstehe den Film, wir reden darüber.“

In diesem Jahr haben Sie 2200 Film-Einsendungen erreicht. Nach welchen Kriterien wählen Sie aus dieser Fülle 63 Filme aus? Und was kommt dann beim Publikum besonders gut an?
Ich bestehe darauf, dass wir einen Film nicht nur auswählen, weil wir denken: Kinder mögen das. Wir suchen nach guten Filmen. Wir suchen nach Entdeckungen, nach frischen Stimmen, nach neuen Geschichten. Ist der Film auf Augenhöhe erzählt? Ist der Film ehrlich? Und eine interessante Farbe, die wir im Programm haben wollen? Wir erwarten nicht, dass jedes Kind jeden Film mag. Das geht nicht. Meistens kommen die Kinder zu mir, wenn ein Film zu standard-mäßig, zu normal ist. Sie fordern mich heraus und sagen: Das ist zu viel Klischee. Dieser Film hat uns nicht gefallen, eben weil es ein Happy End gibt und das nicht unserer Realität entspricht.

Auf welche Weise können sich die jungen Zuschauer zu den gezeigten Filmen äußern und mit den Filmschaffenden in Kontakt treten?
Die Filmemacher, Schauspieler und Produzenten kommen aus aller Welt und begleiten ihre Filme. So gibt es nach der Vorstellung die Möglichkeit eines persönlichen Gesprächs.
In den Kinos legen wir Fragebögen aus: Was hast Du gefühlt, was hast Du gedacht, als Du den Film gesehen hast? Was hättest Du anders gemacht? Dieses ehrliche Feedback ist für uns ein Geschenk. Wer diese Zettel ausfüllt, kann sich damit auch für die Kinder- oder Jugendjury im nächsten Jahr bewerben. Es ist uns wichtig, dass diese jungen Leute ein Gespür für unser Profil und sich mit den Generation-Filmen auseinandergesetzt haben. Ich gucke nach originellen und frischen Antworten zu den Filmen.

Welche Entwicklungen würden Sie sich für die Filmbranche in Bezug auf das jugendliche Publikum wünschen?
Ich verstehe nicht, warum Kinder und Jugendliche als marginalisiertes Publikum gesehen werden, das mit Popcorn vor dem Bildschirm sitzt. Es ist nicht unsere Aufgabe, die jungen Menschen mit dem zu füttern, was sie immer mögen und woran sie gewöhnt sind. Im Kino können sie einen Blockbuster nach dem anderen sehen, es gibt viele kommerzielle Filme und viele Klischees. Das ist nur ein Bruchteil von dem, was man eigentlich sehen könnte, wenn die Verleiher ein bisschen mutiger wären.

Das Gespräch führte Margarethe Neubauer, 21 Jahre

Das könnte Dich auch interessieren

Kategorien Film & Fernsehen Medien

Schreiben ist meine Neurose. Ich mache das wirklich nicht freiwillig. An pathologischer Schreibwut leide ich etwa seit meinem neunten Lebensjahr. Heute bin ich 24. Sie äußert sich in der übermäßigen Produktion von Texten, dabei reagiere ich sensibel auf gute Geschichten. Schreiben ist mein Plüsch–Airbag gegen Schleudertraumata im täglichen Gedankenkarussell, Weckglas für klebrig-süße Memoirenmarmelade und die doppelte Aspirin am Morgen nach einem exzessiven Empfindungsrausch. Ich habe eine Schwäche für Präpositionen mit Genitiv, Schachtelsätze und Ironie. In die Redaktion komme ich nur, weil es da umsonst Tee gibt.