Weihnachten 2012 – 1. Türchen

Eins wie erster Dezember und erstes Türchen aber auch wie Erstes Deutsches Fernsehen – für mich spielt die ARD eine große Rolle in der Weihnachtszeit. Warum? Sie zeigt den Film „Der kleine Lord“. Seit ich denken kann, schauen wir in meiner Familie einmal im Jahr diesen Film. Das ist ähnlich spießig und zugleich Kult wie jeden Sonntag den Tatort einzuschalten, nur dass die Handlung beim Tatort wechselt, während sich am kleinen Lord nichts ändert. Das ist auch gut so. Ich glaube, meine Familie zöge geschlossen zum Demonstrieren vor das Hauptstadtstudio, falls die ARD eine Neuverfilmung zeigen wollte. Ein Jahr ohne den kleinen Lord? Unvorstellbar!

 

Im ersten Jahr, in dem ich nicht mehr bei meinen Eltern wohnte, schaffte ich es nicht rechtzeitig zum kleinen Lord nach Hause, weil meine Universität ihre Ferienplanung leider nicht nach dem deutschen Fernsehprogramm richtet. Die Katastrophe schien nicht abzuwenden, da ich mich als Literaturstudentin gegen einen Fernseher in meinem WG-Zimmer entschieden hatte und nun nicht wusste, wie ich den Film sehen könnte. Aber glücklicherweise hatte ich eine Mitbewohnerin, ebenfalls Literaturstudentin, mit weniger Bildungsdünkel und dafür einem Fernseher. Also telefonierte ich am Abend, an dem der kleine Lord im Fernsehen lief, mit meinen Eltern, um mich auf den Film einzustimmen, und schaute ihn dann zusammen mit meiner Mitbewohnerin.

 

Nach all den Jahren kennen wir in meiner Familie die Handlung natürlich in und auswendig. Trotzdem haben wir immer viel Spaß, wenn wir den Film sehen: Wir lieben es, die britischen Namen nachzusprechen – Lord Fauntleroy, Earl of Dorincourt, Hustings, Higgins und Havisham –, wir empören uns jedes Jahr aufs Neue über die anfängliche Herzlosigkeit des Earls, dessen Verstocktheit niemand besser spielen könnte als Alec Guinness, und der weibliche Teil meiner Familie bricht gegen Ende immer in Tränen aus. Natürlich hat jedes Familienmitglied auch seine individuelle Lieblingsszene. Meine ist die, in der Cedric die Party seines Großvaters aufmischt, indem er sich das Lied „Oh Dem Golden Slippers“ wünscht. Warum ich diese Szene so liebe? Das liegt eigentlich an einem Missverständnis. Da mein Englisch nicht besonders gut war, als ich den Film die ersten Male sah, war ich der festen Überzeugung das Lied heiße „Old men’s golden slippers“. Ich dachte, Cedric mache sich über die goldenen Hausschuhe seines Großvaters lustig. Das schöne an solchen Verhörern ist, dass man sie nie weider aus seinem Gehör bekommt. Wenn ich heute den kleinen Lord sehe, dann habe ich immer die Wahl, ob Cedric über feine Schuhe singt, die er gerne besäße, oder die goldenen und in meiner Vorstellung etwas geschmacklosen Hausschuhe seines Großvaters.


Cordula Kehr (21 Jahre)

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Kategorien Film & Fernsehen Medien

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