Darsteller steht erhöht auf der Bühne, weitere Schauspieler im Hintergrund.
Salah hat den Text für die Hauptrolle in nur zwei Wochen gelernt.

Theater im Jugendgefängnis: Woyzeck reißt uns mit in seine Abgründe

Die Darsteller haben beim Üben ihre Fähigkeiten neu entdeckt und bringen den Stolz und die Freude darüber mit auf die Bühne. So habt ihr „Woyzeck“ garantiert noch nie gesehen.

Von Selly Häußler, 28 Jahre

„Immer zu, Immer zu“ – ein junger Mann in der Jugendstrafanstalt Berlin schlägt verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammen. „Stich, stich die Zickwolfin tot! – Soll ich! Muss ich? Hör‘ ich’s da auch?“, er schaut mit zusammengezogenen Augenbrauen nach oben. „Sagt’s der Wind auch? Hör‘ ich’s immer, immer zu: stich tot, tot!“ Die Scheinwerfer leuchten auf und die blutrote Bühne im Hintergrund wird angestrahlt. Der 23-jährige Salah stellt hier eine von Woyzecks letzten Halluzinationen dar, bevor er die Mutter seines Kindes ersticht.

Das Stück von Georg Büchner ist voll von bedrückenden Szenen wie dieser. Woyzeck beim Militär, Woyzeck beim Arzt, Woyzeck vor Gericht. Selbst die an die Wand projizierten Bilder von einem Jahrmarkt sind mit bedrohlicher Musik unterlegt. Und trotzdem schafft es die Theater-Truppe das Publikum mit jeder Menge positiver Energie mitzureißen.

Freestyle Tanz

Der Verein aufBruch arbeitet seit 2005 mit Gefangenen, die sich freiwillig für das Projekt melden. Die 18 bis 23 jährigen singen, tanzen und beziehen das Publikum mit ein. Der Tambormajor, der Woyzecks Freundin Marie schließlich verführt, steppt was das Zeug hält. Man spürt sofort: Das kommt von innen. „Das mit dem Tanzen und Schattenboxen ist ganz spontan entstanden“, bestätigt Jamal meine Vermutung. Er lächelt etwas verlegen. „Ich hab das aus Spaß gemacht und Peter meinte dann, es sieht gut aus.“ Aus seiner Stimme ist ehrliche Freude darüber zu hören, dass er darauf angesprochen wird. Der 21-jährige betrauert jetzt schon das Ende des Theaterprojekts. „Nur noch sechs Aufführungen! Ich war schon mal dabei, aber jetzt hatte ich noch mehr Spaß. Wir haben davor nicht mal geredet und jetzt sind wir wie eine Familie geworden.“ Sieben Wochen lang haben sie sich gemeinsam vorbereitet. Etwa 18 Stunden in der Woche nimmt das Theaterspielen ein, zusätzlich zur regulären Arbeit. Dazu kommt noch das Textlernen. Und auch sonst verbringen die frisch gebackenen Schauspieler viel Zeit miteinander.

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Das mit dem Tanzen und Schattenboxen ist ganz spontan entstanden.

Jamal, Tambormajor

„Peter und die anderen vom Team aufBruch behandeln uns anders. Sind nicht so streng, wie die anderen hier drin. Und sie haben das Unmögliche möglich gemacht und uns Döner gebracht“, sagt Jamals Kollege mit leuchtenden Augen. Für mich ist Döner ein Notfall-Plan, wenn ich unterwegs oder verkatert bin. Fastfood eben. Hier drin ist er etwas Besonderes. Während der Vorstellung erscheint es surreal, dass die Schauspieler nicht raus können. Auch ich kann nicht einfach aufstehen und gehen, wie bei einer gewöhnlichen Theateraufführung. Die Produktionsleiterin Sibylle Arnd geht immer voran. Ihre überdimensional großen Schlüssel klirren laut, wenn sie die Tür aufschließt. Ansonsten würden wir wohl vergessen, wo wir hier überhaupt sind: Die Gänge sind teilweise in bunten Farben gestrichen und Bilder hängen an der Wand, der Raum für das Pressegespräch wirkt wie ein gewöhnlicher Meetingraum.

Gesellschaftliche Außenseiter

„Die meisten sind wegen Gewaltdelikten hier“, meint Peter Atanassow, der Regisseur. Wie auch Woyzeck seien sie Außenseiter in der Gesellschaft mit begrenzten Perspektiven. Akteneinsicht haben die Leute vom Team „aufBruch“ aber nicht, um nicht voreingenommen zu sein. Beim Theaterspielen lernen die Jugendlichen dran zu bleiben. Die acht, die von etwa dreißig Interessierten dabei geblieben sind, haben dem Theaterspielen alles untergeordnet. Ursprünglich waren es zehn Teilnehmer, zwei durften wegen Disziplinarverfahren nicht mehr mitmachen. Salah hat den Text der Hauptrolle deshalb in nur zwei Wochen gelernt. „Das Textlernen war kein Problem. Am Anfang war es schwer Woyzeck zu verstehen. Aber mit der Zeit konnte ich es gut nachvollziehen“, sagt er.

Wir begeben uns gemeinsam auf eine Abenteuerreise. Die Jungs entdecken Fähigkeiten, von denen sie nichts wussten.

Peter Atanassow, Regisseur

Der Regisseur ist sichtlich begeistert vom Arbeitsprozess: „Das Schöne ist, sie haben im Vergleich zu professionellen Schauspielern keine Erwartungen. Wir begeben uns gemeinsam auf eine Abenteuerreise. Die Jungs entdecken Fähigkeiten, von denen sie nichts wussten und es gibt auf diesem Gebiet keine Vorverletzungen“ sagt er. Damit sie sich besser einfühlen können, hat er „seine Jungs“ eigene Texte kreieren lassen. „Beim Stück war der Reiz aber schon, die Sprache beizubehalten. Dazu mussten wir auch sprachliche Schwierigkeiten überwinden“, sagt Atanassow. Einige der Jugendlichen waren wohl selbst nie im Theater. „Ich konnte mir darunter nichts vorstellen“, sagt der Darsteller von Marie.

„Ich wollte schon tugendhaft sein, aber ich bin ein armer Kerl“, schallt es von der Bühne. Welche Umstände genau dazu geführt haben, dass Woyzeck Marie erstochen hat, weiß der Zuschauer letztendlich nicht. Aber er weiß von vielen Benachteiligungen.

Vorstellungstermine: 6., 8., 11., 13., und 15. November. Einlass: 16:30 bis 17:15, Beginn 17:30.
Karten ab 16 Jahren nur mit persönlicher Anmeldung mindestens 5 Tage vor der Vorstellung
. 15 Euro, 10 Euro ermäßigt. Online unter: shop.gefaegnistheater.de oder Tel.: 0302465777 (Mo-Sa: 11-18 Uhr).

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Kategorien Instagram Kultur Theater

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