Young Euro Classic ist ein Schulprojekt in Kooperation mit dem Internationalen Literaturfestival Berlin.

Young Euro Classic: Berliner Schüler*innen schreiben bewegende Texte über Europa

Was halten junge Leute von Europa? Dieser Frage sind Berliner Schülerinnen und Schüler im Rahmen eines Literaturprojekts nachgegangen und haben ihre Gedanken in bewegende Gedichte und Essays gegossen. Wir präsentieren einige der besten Texte.

Die Frage, was Europa bedeutet, beschäftigt uns heute mehr denn je, gerade im Angesicht zahlreicher Zerreissproben in den vergangenen Jahren. Auch in den jüngeren Genrationen haben die Meisten gute und schlechte Erfahrungen mit dem Konstrukt „Europa“ gemacht – und zeigen vermehrt starkes politisches Engagement. Nun durften einige Berliner Oberstufenschülerinnen und -schüler im Zuge eines Literaturprojekts des Young Euro Classic-Festivals ihre Erfahrungen und Gedanken in Textform künstlerisch präsentieren. Dabei herausgekommen sind einige beeindruckende Texte, die am kommenden Sonntag, den 09. August, bei einer Lesung im Konzerthaus Berlin von niemand geringerem als den Schauspielern Dietmar Bär und Nadine Schori vorgetragen werden. Auf den nachfolgenden Seiten präsentieren wir vorab einige der besten Gedichte und Aufsätze.

Die Lieder der Welt

von Jorina Deeters

Salat mit Tomaten, Walnüssen und Käse, eine leichte, aber gut gewürzte Suppe, Lasagne mit drei verschiedenen Soßen, Obstorte mit Sahne. Für so ein Abendessen steht mein Opa den halben Tag in der Küche. Er liebt es zu kochen. Wohl deshalb behauptet meine Oma, sie könne mal gerade Kaffee machen. Das tut sie dafür aber zu jeder Tageszeit – in ihrer riesigen Küche.

Diese Küche! Bunte Kochbücher mit Rezepten aus aller Welt, sieben unterschiedliche Sorten Nudeln auf einem Regalbrett und mein Opa – inmitten des Chaos aus benutzten Schüsseln, Pfannen und Töpfen – summend, mit seiner roten Schürze und seinen weißen verrückten Locken, die vom Kopf abstehen.

Ich bin bei meinen Großeltern in den Niederlanden. Viereinhalb Stunden mit dem Zug ent-fernt liegt mein Zuhause: Berlin. Aber dies hier ist der Ort, an dem ich aufgewachsen bin. Der Ort, wo ich Ruhe vor dem Lärm der Welt habe. Ein großes Stück Heimat!

In Berlin stehen ganz andere Geräusche für “Heimat”: Autoreifen auf Asphalt, Straßenmusik, Menschen, die sich auf der Straße unterhalten – jeder Dritte spricht eine andere Sprache!

Auch Berlin verbindet sich mit wichtigen Erinnerungen: Erinnerungen an “das erste Mal” zum Beispiel. Das erste mal selbst ein Eis kaufen, das erste mal alleine U-Bahn fahren, der erste Schultag. Die erste Freundin. Jede Straße mit ihren kleinen oder auch sehr großen Geschäften ist vertraut. Die waren schon immer da…

Berlin und das holländische Dorf meiner Großeltern singen ganz eigene Lieder für mich. Heimat ist nicht an einen einzelnen Ort gebunden. Heimat ist überall da, wo der Lärm der Welt wie Musik in meinen Ohren klingt.

Das Lied der Niederlande handelt für mich von Inspiration, Leidenschaft für Kunst und einer liebevollen Familie. Von Eigenheiten, die es nur hier gibt: Morgens Schokostreusel aufs sehr spezielle Weißbrot – mit dem Fahrrad in die nächste Stadt fahren, ohne den Fahrradweg je zu verlassen – eine merkwürdige Sprache, die irgendwie jeden sympathisch klingen lässt.

Mein Opa spricht weder Deutsch noch Englisch und ich kein Niederländisch. Meine Oma muss immer übersetzen und trotzdem könnte die Kommunikation zwischen meinem Opa und mir nicht herzlicher sein.

Heimat ist nichts, dem Grenzen und Nationalitäten im Weg stehen. Ich bin Deutsche, weil das auf einem Stück Papier steht. Und weil Berlin Heimat ist. Aber nicht das ganze Deutsch-land! Wie sollte Bayern, wo ich noch nie war, ein Lied für mich singen? Da dringt nur Lärm aus weiter Ferne an mich heran – Lärm des Klischees von Deutschland: Bierkrug in der einen und Brez’n in der anderen Hand, ein Volkslied wird gegrölt.

In den Augen von Nationalisten wäre mein Opa sicher kein Niederländer. Er heißt Ali, stammt aus Tunesien und ist vor fünfzig Jahren zum Kunststudium nach Europa gekommen. Ich bin mir nicht mal sicher, ob er die niederländische Staatsbürgerschaft besitzt. Aber egal: Er singt das Lied dieser Heimat für mich.

Wir haben das Glück, dass wir hier in Europa von offenen Grenzen umgeben sind: Sie ma-chen es uns möglich, die Lieder der Welt zu hören.

Wenn die Lieder der Welt erklingen, sollten wir uns nicht die Ohren zuhalten. Sondern hin-hören! Hinter unseren persönlichen Grenzen liegt noch so viel Schönes….

Mein Opa steht in seiner roten Schürze am Herd, auf dem schon vier Kochtöpfe stehen und einfach kein Platz mehr für den fünften sein will. Er guckt auf, lächelt mich an und bedeutet mir mit der Hand, näher zu kommen und das Essen zu probieren. Dann tätschelt er mir liebevoll die Wange und sagt: „Mijn meisje“.

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