Aufbruch "Odysseus lebt" von Raoul Biltgen, Premiere: 11.4.2016 in der JSA Berlin, Regie: Peter Atanassow, Bühne: Holger Syrbe, Kostüm: Gilvan de Oliveira, Dramaturgie: Claudia Rothenbühler, mit dem Gefangenenensemble von aufBruch in der JSA Berlin: Abo Osman, Aladdin, Bilal, Can, Carlos, Gerald, Hamudi, Jugo, Karsten, Momo, Pawel, Vitali

Von Vätern und Helden: Gefängnistheater Aufbruch inszeniert moderne „Odyssee“

Gefängnistheater Aufbruch inszeniert moderne „Odyssee“

Das Halbdunkel im Kultursaal der Jugendstrafanstalt Berlin erfüllt eine nervenkitzelige Atmosphäre. Bald hat hier das Stück „Odysseus lebt“ Premiere und die Mitwirkenden beschleicht das Lampenfieber. Noch kommt den jungen Männern der Text etwas holprig über die Lippen. Außerhalb der Gefängnismauern hat bisher keiner von ihnen auf der Bühne gestanden, deshalb können sie sich nur schwer vorstellen, mit ihrer Darbietung die Aufmerksamkeit des Publikums zu gewinnen. „Die Leute dürfen keine Tomaten mitbringen, oder?“, sorgt sich einer von ihnen.

In khakifarbenen Shirts und derben Stiefeln stehen die Schauspieldebütanten wie Soldaten und sprechen im Chor über die epische Schlacht Troja versus Griechenland, die Homer einst bedichtete und Raoul Biltgen in zeitgemäßer Sprache bearbeitete. Von einem Mitschüler provoziert, reflektiert der junge Telemach über seinen verschollenen Heldenvater Odysseus. Und kompensiert dessen schmerzhafte Abwesenheit mit einem Bericht seiner ruhmreichen Taten. Doch wie viel wert ist ein Vater, der die kühnsten Abenteuer besteht, sich aber um seinen Sohn nicht kümmert?

Aufbruch "Odysseus lebt" von Raoul Biltgen, Premiere: 11.4.2016 in der JSA Berlin, Regie: Peter Atanassow, Bühne: Holger Syrbe, Kostüm: Gilvan de Oliveira, Dramaturgie: Claudia Rothenbühler, mit dem Gefangenenensemble von aufBruch in der JSA Berlin: Abo Osman, Aladdin, Bilal, Can, Carlos, Gerald, Hamudi, Jugo, Karsten, Momo, Pawel, Vitali
Die JSA Berlin beweist: Gefängnis kann Kultur. Foto: Thomas Aurin

Zwei Monate lang haben die Jungs freiwillig viele Stunden in der Woche für das Stück geprobt, obwohl sie tagsüber die Schulbank drücken oder eine Ausbildung machen. Für sie ist das Theaterprojekt ein Ausbruch aus der quälenden Langeweile ihrer Einzel-zellen. Aus voller Kehle schmettern sie ein Seemannslied, springen in Kampfakrobatiken aufeinander zu. „Menschenfleisch, heute billig, morgen teuer!“, ruft der Zyklop wie ein Marktschreier aus seiner Höhle.

Dass auch die Familien der Darsteller zur Vorstellung geladen sind, steigert die Aufregung. „Die werden bestimmt lachen. Diese Seite kennen sie von mir überhaupt nicht“, sagt Bilal. Doch als er mutig vor die Kulissen tritt und in einem Solostück mit seiner guten Stimme überrascht, herrscht auch unter seinen Bühnenkollegen anerkennende Stille. Anfangs hätten sie sich noch voreinander geschämt, mittlerweile seien sie wie ein richtiges Ensemble, das sich gegenseitig motiviert, erzählen die Jungs. Die neuen Seiten, die sie auf der Bühne an sich selbst entdecken, wollen sie auch nach außen zeigen. „Die Insassen hier werden oft einfach als Verbrecher abgestempelt. Wir wollen vor unserem Publikum auch gegen Vorurteile ankämpfen“, sagt Can.

Vorstellungen: mit Voranmeldung am 18., 20. und 22. April.

Von Margarethe Neubauer, 21 Jahre

Das könnte Dich auch interessieren

Kategorien Kultur Theater

Schreiben ist meine Neurose. Ich mache das wirklich nicht freiwillig. An pathologischer Schreibwut leide ich etwa seit meinem neunten Lebensjahr. Heute bin ich 24. Sie äußert sich in der übermäßigen Produktion von Texten, dabei reagiere ich sensibel auf gute Geschichten. Schreiben ist mein Plüsch–Airbag gegen Schleudertraumata im täglichen Gedankenkarussell, Weckglas für klebrig-süße Memoirenmarmelade und die doppelte Aspirin am Morgen nach einem exzessiven Empfindungsrausch. Ich habe eine Schwäche für Präpositionen mit Genitiv, Schachtelsätze und Ironie. In die Redaktion komme ich nur, weil es da umsonst Tee gibt.