Krieg, Flucht, kulturelle Vielfalt: Das Atze startet mit dem brisanten Theaterstück „Alle da!“ in die neue Spielzeit
Dreißig Paar Schuhe stehen auf der Bühne. Stiefel, Turnschuhe, Ballerinas, bunte und gemusterte. Scheinbar wurden sie nach einer bestimmten Ordnung aufgestellt. Durcheinander, aber mit System. Sie symbolisieren die 30 Kriege, die derzeit auf der Welt geführt und wegen denen Menschen die Flucht ergreifen oder gar getötet werden. Drei Schauspieler stehen schweigend um die Schuhe herum. Sie verkörpern den Krieg, die Flucht und das Mitgefühl.
Irak, Libanon, Palästina – plötzlich beginnen sie wild durcheinander die Kriegsgebiete aufzuzählen. Schnell verliert der Zuschauer den Überblick. Wo noch mal herrscht überall Krieg? Und warum überhaupt? Interviewausschnitte mit dem deutschen Astronauten Alexander Gerst erklingen. Seine eindringlichen Kommentare über die Empfindsamkeit der Erde sorgen für Gänsehaut. „Es ist schon komisch, wenn wir uns unsere Erde von hier oben anschauen, wie zerbrechlich sie wirkt. Da ist es geradezu grotesk, was wir auf der Erde veranstalten.“ Zerstörung des Amazonas. Flächendeckende Umweltverschmutzungen. Brände in Afrika. Jeder hat schon davon gehört. Dennoch hinterlässt die Konfrontation mit diesen globalen Problemen Beklommenheit.
Gefühle wie dieses spüren die Zuschauer des gerade angelaufenen Theaterstücks „Alle da!“ im Weddinger Atze-Theater mehrfach. Die Inszenierung, die für Kinder ab zehn Jahren konzipiert wurde, basiert auf dem gleichnamigen illustrierten Kinderbuch der Berliner Autorin Anja Tuckermann. Darin erzählt sie unter anderem die Geschichte einer syrischen Flüchtlingsfamilie. Regisseurin Göksen Güntel verarbeitet in „Alle da!“ die Themen Krieg, Flucht und kulturelle Vielfalt in einer Art Collage. Neben Textpassagen aus Tuckermanns Buch werden auch Martin Luther King und Erasmus von Rotterdam zitiert und aktuelle Zeitungsberichte eingebaut.
Anfangs ist die Inszenierung noch idyllisch. Zwei Astronauten tapsen über die Studiobühne. Doch spätestens, als der bedrohliche Krieg auftritt und mit donnernden Gewehrschüssen das Geschirr zum Klappern bringt, ist klar, dass „Alle da!“ ein Stück zum Mitdenken ist. Hier werden Bilder vermittelt, ungeschönt, emotional und mitreißend. Sobald die Vorstellung an Fahrt gewinnt, stecken die Zuschauer auch schon mitten in einem Sog aus Musik, Farben und wechselnden Gefühlen.
Wie ist das eigentlich, wenn man auf der Flucht ist? Was bringt Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen? Was ist ein Vorurteil und woher kommt es? Schnelle Wechsel und die sehr guten Darstellungen der Schauspieler verdeutlichen Hast, machen aber auch klar, dass die Menschen alle gleich sind. Denn die Flucht kennt keine Sprachen, sie kann sie alle sprechen.
Am 3. Oktober feierte „Alle da!“ erfolgreich Premiere. Dem Atze ist es gelungen, ein brandaktuelles Thema auf die Bühne zu bringen. Ein Start in die neue Spielzeit, wie er gelungener kaum sein könnte. Damit beweist das Ensemble einmal mehr, wie wichtig es für die Berliner Jugendtheaterlandschaft ist. Bleibt zu hoffen, dass das auch der Senat sieht. Denn die Zukunft des Musiktheaters ist ungewiss. Wieder einmal. Vor wenigen Tagen hat Kulturstaatssekretär Tim Renner die Verteilung der Fördergelder auf die Kulturstätten der Stadt verkündet. Während große Häuser mit Etat-Erhöhungen bedacht wurden, scheinen die Kinder- und Jugendtheater vergessen worden zu sein.
„Alle da!“ wird am 17. Oktober und 21. November 2015 sowie am 23. Januar 2016 aufgeführt. Termine für Schulklassen werden über die Atze-Theaterkasse erfragt. Mehr Infos unter www.atzeberlin.de
Aniko Schusterius, 19 Jahre