Tinnitus ist nicht heilbar. Viele Betroffene lernen aber, relativ ungestört damit zu leben. Foto: Alexander Raths/Fotolia

Tinnitus: Wenn nach den Abiprüfungen ein Rauschen im Ohr zurückbleibt

Berlins Abiturienten stecken gerade mitten in den Prüfungen, und die Studenten im Unistress. Lernen, Essen, Lernen, Schlafen, Lernen, Prüfung, Lernen. Für viele dürfte die Zeit wie im Film vorbeiziehen. Doch was ist, wenn am Ende ein Rauschen im Ohr zurückbleibt? Wir sprachen mit Petra Brüggemann, Psychologin an der Charité in Mitte über Stress, Tinnitus und Work-Life-Balance.

Stress ist erst in den vergangenen Jahren als relevanter Faktor im Alltag untersucht worden. Was macht Stress denn überhaupt mit dem Körper?
Es gibt keine allgemeingültige Definition. Eigentlich ist Stress etwas Positives, das wir brauchen, um uns gesund zu halten. Wird er zu groß, sprechen wir von negativem Stress.

 Lässt sich definieren, bis wann Stress positiv ist und ab wann negativ?
Die Forschung hat gezeigt, dass Stress ein äußerst individueller und sehr komplexer Prozess ist. Sowohl die Beantwortung als auch das Erleben der Reize spielt eine ganz große Rolle. Es kommt auch immer darauf an, wie die Person den Stress bewertet. Der Kopf spielt dabei eine Rolle, viel passiert unbewusst. Doch wir können Stress bewältigen, indem wir Stressoren aktiv umbewerten.

Nehmen wir an, man steht vor einer extrem wichtigen Prüfung. Wie bewertet man diese Stressoren positiv um?
Man könnte angstvoll an diese Situation herangehen und sich nachts ständig Gedanken machen. Oder man sieht die ganze Sache als Herausforderung und nutzt die eigenen Ressourcen in der Prüfung so gut es geht. Dann ist die Prüfung eher eine Herausforderung als eine angstbesetzte Situation, in der man unter so viel negativen Stress kommt, dass es dann auch zu einem Blackout kommen kann.

Also gelassen bleiben, Augen zu und durch?
Nein, es geht eher um das bewusste Aktvieren von eigenen Ressourcen und das Schließen von Lücken in eben diesen Ressourcen. Quasi ein selbstgesteuerter, aktiver Bewältigungsprozess.

Was genau ist ein Tinnitus?
Ein Tinnitus kann unter anderem durch Stress ausgelöst werden. Das ist ein sehr komplexes Phänomen mit vielen verschiedenen Ursachen. Bis vor 30 Jahren dachte man, dass Tinnitus ausschließlich ein Hörphänomen sei. Mittlerweile weiß man aber, dass er neben den Dysfunktionen im zentralen Bereich des Hörbaren auch deren Verknüpfungen der verschiedenen Hirnareale, die beim Hören beteiligt sind, betrifft. Und das ist eben nicht nur der akustische Cortex, der für die Verarbeitung des Gehörten zuständig ist, sondern auch das damit verknüpfte Limbische System, das Emotionen verarbeitet. Auch der präfrontale Cortex ist betroffen. Er lenkt unsere Aufmerksamkeit und ist nochmals verknüpft mit Arealen, die Stress verarbeiten. Es ist alles ein sehr komplexes Phänomen und jeder Betroffene hat andere Dysfunktionen oder Fehlabläufe im Gehirn. Das heißt aber nicht, das da irgendetwas kaputt ist. Der Tinnitus kann re-trainiert und umgelernt werden.

Tinnitus ist nicht heilbar. Viele Betroffene lernen aber, relativ ungestört damit zu leben. Foto: Alexander Raths/Fotolia
Tinnitus ist nicht heilbar. Viele Betroffene lernen aber, relativ ungestört damit zu leben. Foto: Alexander Raths/Fotolia

Ist prinzipiell jeder gefährdet, einen Tinnitus zu erleiden?
Durchaus, davon muss man ausgehen. In der Forschung geht man davon aus, dass jeder von uns einen Tinnitus als körpereigenes Geräusch mit sich trägt, dass aber der Großteil der Bevölkerung diesen nicht bewusst wahrnimmt. Der andere, geringe Teil der Bevölkerung nimmt den Tinnitus erst in Stresssituationen, bei Erkrankungen oder Verspannungen im muskulären Bereich wahr. Das ist allerdings nur eine Idee. Es gibt mehrere Modelle.

Wie wird ein solcher Tinnitus wahrgenommen? Was macht er mit den Betroffenen?
Er entsteht meist ziemlich plötzlich, innerhalb von einer Stunde zur nächsten. Die Betroffenen haben Angst, dass sie verrückt werden. Bei der Hälfte der Menschen verschwindet ein akuter Tinnitus wieder, bei der anderen Hälfte bleibt er. Nach drei Monaten sprechen wir von einem chronischen Tinnitus. Bei fünf Prozent ist er nach einem Viertel Jahr nich immer nicht weg. Davon können sich 4 Prozent an das Ohrgeräusch gewöhnen, beim restlichen einen Prozent entstehen Begleitphänomene.

Die da wären?
Es findet keine Gewöhnung statt. Der Tinnitus stört immer mehr. Insbesondere in Alltagssituationen, in Ruhe oder in Stille wird er besonders stark wahrgenommen. Viele Betroffene leiden dann unter Schlafstörungen oder können sich nicht mehr konzentrieren. Vor allem bei Anstrengung ist es für sie sehr schwierig, sich weiter zu konzentrieren. Daraus resultierend kann es zu Verstimmungen, Depressionen und Angstzuständen kommen, die behandlungsbedürftig werden. Aber das ist nur bei einem sehr geringen Teil der Betroffenen der Fall.

Es gilt also Stress und Tinnitus voneinander zu trennen. Beides bedingt jedoch einander: Der Stress ist das übergreifende Phänomen und der Tinnitus eines der vielen Symptome. Haben Sie Alltags-Tipps zur Stressprävention?
Bei der Stressprävention geht es um eine gute Regulation von ruhigen und aktiven Abschnitten und um die Integration von Genuss und Lebensqualität. Körperlicher Stress kann gut mit ausreichend Bewegung reguliert werden. Gerade während der Prüfungszeit sollte auf eine gute Schlafhygiene geachtet werden. Hierbei ist routinierte Regelmäßigkeit das Stichwort: Kein Überschlafen, kein Überfeiern und eine relativ feste Zubettgehzeit. Auch sollte man seinen Tag in Abschnitte gliedern: Lernen, Entspannen, aktive Phasen. Jedoch ist die Stressregulation nur ein Element des Tinnitus. Unter anderem gehört auch der Hörschutz dazu. Das heißt nicht, Lärm zu meiden. Für einen kurzen Zeitintervall, weniger als 20 Minuten, ist ein hoher Lärmpegel nicht schädlich. Im Alltag ist es wichtig, nach lärmreichen Phasen ruhige Phasen in den Tagesablauf einzubauen. Auch nach der Schule sollten lärmfreie Phasen eingeführt werden. Ganz allgemein gilt: Wenn man sich anschreien muss, um zu kommunzieren, dann ist der Lärm schädlich für das Gehör. In diesem Fall empfehlen wir dringend einen Gehörschutz.

Wenn es im Ohr rauscht und fiept – was sollte man dann tun?
Eine gute Beratung durch einen qualifizierten HNO-Arzt, ein Tinnitus-Zentrum, einen gut informierten Hausarzt oder einen Facharzt für Orthopädie ist die erste Hilfe. Erste Informationen sind immer beruhigend für die Betroffenen, auch um Ängste und Falschinformationen aus dem Weg zu räumen. Falls der Tinnitus nicht wirklich akut ist, dann würde ich eine gute Anspannungs-Entspannungs-Balance empfehlen. Genügend Sport und positive Aktivitäten sind hilfreich für diese Balance. Belastungen sollten reduziert werden.

Ist ein Tinnitus überhaupt heilbar?
Nein. Es gibt allerdings Fälle, in denen die Betroffenen den Tinnitus verlieren, er kann dann aber auch wiederkommen, insbesondere bei stressigen Situationen oder Krankheiten im Hals-Nasen-Ohren-Bereich. Nichtsdestotrotz ist es wichtig zu lernen, mit dem Tinnitus die gleiche Lebensqualität zu erlangen, die man vorher hatte. Das kann erreicht werden, dauert muitunter aber bis zu einem Jahr.

Das Interview führte Julia Heyer.

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