Die Erfahrung lehrt

Gibt es Lebensentscheidungen, die alles in die falsche Richtung lenken?

Die Erfahrung lehrt: Auch aus den schlechtesten Entscheidungen können sich am Ende überraschend gute, neue Chancen entwickeln. So war es auch bei Paula.

Von Maleen Harten

Gestern war ich das erste Mal bei meiner ehemaligen Mitbewohnerin Paula in ihrer neuen Kreuzberger WG. Ich war zu ihrem Geburtstagskaffeetrinken eingeladen. Paula stand lachend in der Tür, mit ihrem leuchtend türkisblauen Kleid und dem bunten Turban auf dem Kopf, goldene Creolen baumelten unter dem Tuch hervor. Sie sah strahlend schön und völlig entspannt aus. Lange hatte ich sie so nicht mehr gesehen.

Schon ihr Auszugstag war ein einziges Drama

Ein Jahr ist es nun her, dass sie bei mir ausgezogen ist, um mit ihrer damaligen Freundin zusammenzuleben. Aber schon der Auszugstag war ein einziges Drama, so unsicher war sie sich, ob es überhaupt die richtige Entscheidung wäre. Ich erinnere mich, wie sie bei mir in der Zimmertür stand. Kurz darauf wollten wir zusammen das Umzugsauto abholen. Sie war ein Bild des Jammers, von all dem Gezweifel völlig verwirrt: „Ich weiß einfach nicht, ob ich es überhaupt machen soll“, sagte sie immer wieder.

Ich hatte ihr geraten es einfach alles abzublasen. „Bleib einfach hier, es ist noch nicht zu spät“. Auch ich hatte Angst vor der Endgültigkeit falscher Entscheidungen. Aber sie wollte nicht – der Umzugswagen bestellt, die Kisten gepackt, der Wohnungsvertrag unterschrieben ­– das könnte sie ihrer Freundin nicht antun, meinte sie.

Die Krise weitete sich aus

Die Beziehung scheiterte kurz darauf, aber zu mir konnte sie nicht zurück, weil ich zwischendurch schon eine neue Mitbewohnerin gefunden hatte. Sie schlief also eine Zeitlang mit in meinem Bett, bei Freund*innen auf dem Sofa und fand schließlich ein Zimmer in einer WG im Wedding. Aber auch hier war ihre Krise nicht zu Ende. Ich hatte sie dort nie besucht, aber was sie erzählte, hörte sich nach dem klassischen WG-Horror an, eine depressive, garstige Mitbewohnerin, deren Zimmertür meistens geschlossen war, keine Kommunikation, kein Lachen, totale Einsamkeit. Paula suchte und suchte nach neuen Optionen, irgendwann war ihr kein WG-Zimmer mehr zu teuer, keine Abstellkammer mehr zu klein, um darin zu wohnen. Hauptsache sie würde sich endlich wieder wohlfühlen. Aber sie kassierte nur Absagen. Die Krise weitete sich aus.

Gibt es Lebensentscheidungen, die alles in die falsche Richtung lenken?

„Und hat sich was bei der Suche ergeben?“. Wir redeten über nichts anderes mehr, wenn überhaupt. Immer öfter, wollte sie einfach nur in ihrem Bett bleiben. Bei einem Kaffeetrinken vor ein paar Monaten sagte sie mir: „Meine Erkenntnis 2019. Ziehe nie bei Maleen aus.“ Wir lachten, aber irgendwie war es ein bitteres und schweres Lachen. Danach fragte auch mich oft, ob es wirklich Lebensentscheidungen gibt, die so falsch sind, dass sie alles, was danach kommt, überschatten, in die falsche Richtung lenken, einem wirklich richtig was verbauen können?

Seit gestern weiß ich: Nein. Siehe Paula. Kurz vor Silvester kam die Zusage für ihre Traum-WG in ihrem Traumhaus in ihrem Traumkiez. Eine Maisonette-Wohnung, unzählige Quadratmeter, eine Wendeltreppe die ins andere Stockwerk führt, ein eigenes Wohnzimmer, endlich eine Badewanne, ein riesiger Balkon mit einem Blick über ganz Berlin. „Südseite, immer Sonne, es ist so super hell. Nicht so dunkel wie bei dir.“ Äh ja, danke. Aber ich musste tatsächlich neidvoll eingestehen: Das, was sie jetzt hatte, war tausendmal besser als ihr wirklich winziges Zimmer bei mir. Und ihre drei neuen Mitbewohnerinnen: alle super lieb, super lustig, super nett.

Die Erfahrung lehrt: Manchmal muss man einfach durch ein dunkles Tal gehen und sich hohe Berge hinaufquälen, um dann oben angekommen, alles in einem anderen, vielleicht besseren Licht sehen zu können. Diesbezüglich liebe ich das Lied „Wenn die Nacht am tiefsten“ von der 1970er Rockband „Ton Steine Scherben“ so sehr. Im Refrain singt Rio Reiser mit seiner markanten rauhen Stimme davon niemals aufzugeben:

„Doch ich will diesen Weg zu Ende geh’n,
und ich weiß, wir werden die Sonne seh’n!
Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten.“

Ton Steine Scherben (Aus dem Lied: „Wenn die Nacht am tiefsten ist“ , 1975)

Und schlussendlich scheint dann also auch dieses – zugegebenermaßen etwas abgegriffene – Sprichwort wirklich zu stimmen: „Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere.“ Also hinein ins Leben voller Kraft und Risiko!

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